In der EU wurde Larotrectinib als erstes Krebsmedikament mit tumorunabhängiger Indikation zugelassen. Weitere Pharmaka sind in der Pipeline. Naht eine neue Generation von Arzneistoffen?
Jahrzehntelang stand im Lehrbuch, dass die Lokalisation eines Tumors dessen Therapie bestimmt. Das Dogma gerät mehr und mehr ins Wanken. Früher standen Onkologen unspezifische Chemotherapien zur Verfügung, um schnell wachsende Zellen unabhängig von deren Malignität zu eliminieren. Später entdeckte man, dass manche Tumorzellen spezifische Rezeptoren auf der Oberfläche tragen, wobei auch hier Krebs eines bestimmten Organsystems die Anomalie zeigte – oder nicht. Jetzt folgt eine weitere Stufe: die Hemmung spezifischer Proteine im Zellstoffwechsel.
Zum Hintergrund: Molekularbiologen fanden heraus, dass bei etwa einem Prozent aller soliden malignen Tumoren ein spezielles Fusionsprotein zu finden ist. Es entsteht bei der Expression mehrerer Gene der Neurotrophic Receptor Tyrosine Kinase 1-3 (NTRK 1-3) und wird deshalb NTRK-Fusionsprotein genannt. Das Eiweiß führt zur Überexpression eines weiteren Proteins, welches zum malignen Wachstum von Zellen führt.
NTRK-Fusionsproteine können im Körper überall auftreten, da NTRK-Genfusionen unabhängig von Organsystemen oder Gewebe zu beobachten sind. Bislang gibt es Nachweise aus 29 verschiedenen Tumorarten, darunter Lungen- und Schilddrüsenkrebs, Melanome, gastrointestinale Tumoren, Sarkome, Tumoren des zentralen Nervensystems und viele mehr.
Larotrectinib, ein niedrigmolekulares Pharmakon (Small Molecule), wirkt als Inhibitor des NTRK-Fusionsproteins. Im Jahr 2018 veröffentlichten Forscher hierzu wichtige Ergebnisse: Sie hatten den Effekt bei 55 onkologischen Patienten mit 17 verschiedenen TRK-fusionspositiven Krebsarten untersucht. Die Gesamtansprechrate betrug laut unabhängiger Überprüfung 75 %. Nach einem Jahr sprachen 71 % der Patienten weiterhin auf die Therapie an und 55 % blieben progressionsfrei. Schwere Nebenwirkungen (Grad 3 oder 4) traten nicht auf. „Larotrectinib zeigte bei Patienten mit TRK-Fusions-positivem Krebs unabhängig vom Alter des Patienten oder vom Tumortyp eine ausgeprägte und dauerhafte Antitumoraktivität“, halten die Autoren im Artikel fest.
In einer Pressemeldung berichtet Bayer jetzt, dass Vitrakvi® (Larotrectinib) für die Behandlung von Erwachsenen und Kindern mit lokal fortgeschrittenen oder metastasierten soliden Tumoren zugelassen wurde. Voraussetzungen sind Veränderungen im Erbgut, um NTRK-Genfusionen zu detektieren, die mit Hochdurchsatz-Sequenzierungen (Next Generation Sequencing) nachweisbar sind.
Für die Zulassung wurden Daten von 102 Patienten aus zwei unterschiedlichen Populationen gepoolt. Sie hatten an einer Phase-I-Studie mit Erwachsenen, einer Phase-II-Studie mit Erwachsenen und Jugendlichen beziehungsweise an einer Phase-I/II-Studie mit Kindern und Jugendlichen teilgenommen. Bei der primären Studienpopulation mit 93 Patienten zeigte sich eine Gesamtansprechrate 72 %, wobei 16 % vollständig ansprachen. In einer weiteren Kohorte mit 102 Patienten waren es 67 % und 15 %.
Die Ansprechdauer schwankte zwischen mehr als 1,6 und mehr als 38,7 Monaten. Bei 75 % wurden mindestens 12 Monate erreicht. Ein Jahr nach Behandlungsbeginn waren 88 % der Patienten aus der primären Analysepopulation noch am Leben.
Der Arzneistoff erwies sich als sicher. Unerwünschte Ereignisse waren meist vom Grad 1 oder 2. Nur 3 % der Patienten mussten ihre Behandlung deshalb abbrechen.
Von der Wissenschaft zur Wirtschaft: TRK-Fusionstumore treten selten auf, Bayer schätzt einige tausend Fälle in ganz Europa pro Jahr. Damit zählt Vitrakvi® zu einem Nischenprodukt der Onkologie. Es wurde zuvor schon in den USA, Kanada und Brasilien zugelassen. Das Handelsblatt gibt Therapiekosten von 32.800 US-Dollar pro Monat an. Deshalb werden neue Preismodelle mit Erstattung diskutiert, falls es nicht zu einem klinischen Nutzen kommt.
Andere Hersteller haben das Therapieprinzip auch erkannt. Das Konkurrenzprodukt Rozlytrek® (Entrectinib) richtet sich ebenfalls gegen Fusionsproteine unabhängig vom Organ- oder Gewebetyp. Es wurde bereits in den USA und in Japan zugelassen. Mit Behandlungskosten von rund 17.000 US-Dollar pro Monat ist es zumindest auf dem amerikanischen Markt günstiger als Vitrakvi®.
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