Jens Spahns neues Projekt: Die elektronische Gesundheitskarte soll dem Gesundheitssystem endlich einen Mehrwert bringen. Jetzt gerät er unter Druck. Denn die Techniker Krankenkasse führt ihre eigene elektronische Patientenakte ein. Wie sinnvoll ist der Vorstoß der TK?
Mitte April konnten rund 7.000 Ärzte in Deutschland nicht auf die Daten ihrer Patienten zugreifen. An diesem Tag war der Abgleich von Basisdaten nicht möglich. Telematik-Infrastrukturen waren mehrere Stunden lang ausgefallen – ganz ohne Vorwarnung. Auch im März war das Netz schon einmal in die Knie gegangen. Experten sehen darin keinen Hals- und Beinbruch. Allerdings zeigen die Pannen, wie schlecht es um das Projekt „Elektronische Gesundheitskarte (eGK)“ nach 14 Jahren und mehr als zwei Milliarden Euro Budget bestellt ist. Mit der eGK werden derzeit nur Basisdaten abgeglichen. Medikationspläne nehmen Patienten immer noch als Ausdruck mit. Jens Spahn (CDU) will „in den nächsten dreieinhalb Jahren das Ding endlich so kriegen, dass Patienten, Ärzte und Pflegekräfte einen Mehrwert spüren, weil es die Versorgung besser macht“, sagte er beim Amtsantritt. Ähnliche Worte sind von seinem Vorgänger Hermann Gröhe (CDU) in Erinnerung geblieben. Sein hochgelobtes E-Health-Gesetz blieb hinter allen Erwartungen weit zurück.
Gesetziche Krankenversicherungen sind nicht mehr bereit, sich das Trauerspiel länger anzusehen. TK-Chef Jens Baas spricht beim Status quo von „völlig überholten analogen Strukturen, die es Patienten unnötig schwermachen, an ihre Daten zu kommen“. Er kritisiert damit das gematik-Konsortium – die Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte. Diese bezeichnen sich selbst als Kompetenzzentrum für Gesundheits-IT und kümmern sich um die technischen Aspekte bei der Einführung der elektronischen Gesundheitskarte. Baas präsentiert derweil eine elektronische Patientenakte (ePA) aus eigener Entwicklung, TK-Safe genannt. Als Partner ist IBM Deutschland mit im Boot. Nach erfolgreichem Abschluss des Testbetriebs lädt Baas Versicherte jetzt ein, sich für Betatests zu registrieren. © TK Hinter TK-Safe steckt eine sichere Cloud auf Servern in Deutschland. Relevante Daten, also Arztbesuche inklusive Diagnosen, Röntgenbilder, verordnete Arzneimittel oder Impfungen, landen über mehrere Wege in der ePA. Die TK stellt selbst relevante Daten zur Verfügung, etwa Arztbesuche, Diagnosen oder Verordnungen. Die Informationen können manuell um eigene Daten ergänzt werden. OTCs lassen sich per Barcode-Scanner hinzufügen, und Arztbriefe oder Röntgenbilder können einfach hochgeladen werden. Zu Beginn sind Kliniken der Agaplesion gAG mit beteiligt, um Entlassdokumente einzustellen. Weitere Konzerne hätten Baas zufolge schon Interesse signalisiert. Alle Daten werden Ende-zu-Ende-verschlüsselt. Die Entschlüsselung geschieht am Smartphone des Patienten per App. Versicherte entscheiden, welche Informationen in ihrer ePA landen, und was ein Arzt zu sehen bekommt.
Im technischen Sinne hat die TK zwar Deutschlands erste flächendeckend verfügbare ePA vorgestellt. Doch Konkurrenten sind ebenfalls aktiv. „Die elektronische Gesundheitskarte ist gescheitert“, kritisiert Martin Litsch, Chef des AOK-Bundesverbandes. Technologien aus den Neunzigerjahren würden „zu Monopolpreisen aufrechterhalten“. Er wünscht sich Rahmenbedingungen für zeitgemäße Anwendungen. Deshalb hat Litsch ein regionales Gesundheitsnetzwerk auf die Beine gestellt. © AOK In Mecklenburg-Vorpommern und Berlin testen AOKen Datentransfers zwischen Patienten, niedergelassenen Ärzten und Kliniken. Ihr System unterscheidet sich grundlegend vom TK-Konzept: Es gibt keinen zentralen Server. Vielmehr werden Dokumente innerhalb des Netzwerks von ihrem eigentlichen Speicherort, beispielsweise einem Krankenhaus, abgerufen. Die eigentliche ePA enthält Links zu den physischen Ablageorten. Klinik- oder KV-Server müssen 24 Stunden online bleiben. Leistungserbringer erhalten über das Sichere Netz der KVen (SNK) Zugriff. Patienten verwalten ihre Informationen über ein Portal. Dort können sie auch Zugriffsrechte festlegen.
Zwei große Krankenkassen haben es geschafft – wenn auch mit unterschiedlicher Systemarchitektur – ein Projekt zu realisieren, an dem Experten des gematik-Konsortiums bislang gescheitert sind. Vielleicht lag es an klarer formulierten Ausschreibungen oder am besseren Projektmanagement. Vielleicht haben sich TK und AOK aber auch innovationsfreundliche Kooperationspartner gesucht. Tatsache ist, dass etliche Vertreter der Ärzteschaft nicht hinter der eGK stehen. Mitte April hatte die Bundesärztekammer (BÄK) Spahns Vorstoß kritisiert, eine bestehende Verordnung über Testmaßnahmen aufzuheben. Der Gesundheitsminister betrachtet die Phase als abgeschlossen. Anstatt inhaltliche Vorgaben zu machen, will er lieber Fristen setzen. Spahn selbst bewertet die ePA als „Schlüsselfunktion“. Er lehnt „Insellösungen“, die sich nicht auf andere Kassen übertragen lassen, ab. Sowohl die TK als auch die AOK betonen, ihre Systeme seien mit der Telematik-Infrastruktur kompatibel. Ob alles funktioniert, wird sich erst in ein paar Monaten zeigen. Bereits jetzt ist klar, dass Versicherte aka Steuerzahler in doppelter Hinsicht blechen. Ihr Geld fließt in die offizielle eGK und in Eigenentwicklungen gesetzlicher Kassen.
Krankenkassen handeln aber nicht ohne Eigennutz. Wer bessere Daten hat, optimiert Therapien und senkt Kosten. Bestes Beispiel ist die Arzneimitteltherapiesicherheit. Laut ABDA gehen rund fünf Prozent aller Krankenhauseinweisungen auf unerwünschte Effekte von Pharmaka zurück. Bei älteren Patienten, die viele Medikamente erhalten, sind es bis zu zehn Prozent. Das führt nicht nur zu großem Leid, sondern kostet auch viel Geld. Es geht aber um mehr, wie ein Blick über den Tellerrand zeigt. Apple bringt ab iOS 11.3 ein Feature namens Health Records mit, das zentrale Aufgaben einer eGK erfüllt. Die Entwickler arbeiten mit FHIR (Fast Healthcare Interoperability Resources) als internationalem Standard zum Datenaustausch. Um die größtmögliche Zusammenarbeit über Systemgrenzen hinweg zu gewährleisten, hat Apple mehrere Hersteller von Krankenhausinformationssystemen (KIS) ins Boot geholt. Hinter dem Aufwand verbergen sich höchstwahrscheinlich datenbasierte Geschäftsmodelle, was Apple derzeit dementiert. „Ziel ist, medizinische Daten einfach und sicher gleich auf dem iPhone anzusehen“, so Jeff Williams, COO bei Apple. Auch die TK hat großes Interesse, Patientendaten zu sammeln, selbstverständlich auf freiwilliger Basis. Baas stellte Ende 2016 klar, wohin der Hase läuft: „Unsere aktuelle Bewegungsstudie zeigt, dass jeder siebte Erwachsene in Deutschland bereits digitale Trainingsbegleiter nutzt, und die Hälfte von ihnen ist überzeugt, sich damit mehr zu bewegen. Das möchten wir honorieren – auch in unserem Bonusprogramm.“ Sind Versicherte einverstanden, steht der Nutzung von Daten nichts im Weg, beispielsweise für Zusatzangebote. Und das V. Sozialgesetzbuch bleibt dabei unangetastet.