Ein Arzt ist verärgert, eine Psychotherapeutin besorgt und die Medizinethikerin spricht von Gefahr. Dieses Zusammentreffen war sehr emotional. Worum geht es?
Der Arzt steht auf, schnappt sich das Mikro und sagt aufgebracht: „Das Problem ist der Google-Zettel. Es dauert ewig, den Patienten aufzuklären. Ihm zu sagen, nein, es ist kein Darmkrebs. Ich fordere, dass wir Ärzte den Google-Zettel abrechnen dürfen. Den hat uns nämlich die Digitalisierung beschert.“
Der Google-Zettel? Die anderen Zuhörer im Publikum gucken fragend. Ein anderer klärt auf: „Ein Google-Zettel wird gerne von Patienten in die Praxis mitgebracht. Sie haben dann ihre Symptome gegoogelt, eine Diagnose gefunden und das Ganze ausgedruckt.“ Er berichtet, dass es dann gerne mal 30 Minuten dauere, den Patienten aufzuklären und dass diese Leistung sich eben nicht abrechnen lasse.
Ich habe das Gefühl, dass sich die Veranstalter das irgendwie anders vorgestellt haben. Ich befinde mich auf einem Kongress in München mit dem Titel „Digital Health. Gesundheit neu denken“ und als Redner sind junge Gründer von Start-ups eingeladen. Die Themenblöcke heißen unter anderem „Smart Hospital“ und „Big Data“. Hier, bei diesem Event im Verlagshaus der Süddeutschen Zeitung in München, soll über die Zukunft der Medizin gesprochen werden. Und dann kommt so einer mit dem „Google-Zettel“. Er wirkt fast wie ein Spielverderber.
Auf dem Podium geht es nun weiter im Programm. Die Vorteile von Apps sollen besprochen werden: „Ich bin Typ-I-Diabetiker, Apps haben mein Leben verändert. Ich kann mich selbst monitoren, ich hab meinen Insulinspiegel immer im Blick. Die ewige Pikserei hat ein Ende.“
Er ist euphorisch, sagt aber auch, wir stünden da noch am Anfang. Erst neulich sei übers Wochenende seine App aktualisiert worden und war deshalb down. Er war völlig aufgeschmissen. „Nix ging mehr, weder an der Hotline noch die Betreiber selbst konnten mir helfen.“
Ein paar Stimmen aus dem Publikum melden sich. Gründer zeigen sich begeistert, dass Ärzte schon bald Apps verschreiben können. „Das ist ein Game-Changer. Software as a drug.“ Ein anderer sagt: „Da werden neue Medizin-Apps wie Pilze aus dem Boden sprießen.“
Man berichtet von einer App speziell für Menschen mit bipolarer Störung. Die Applikation erkenne früher als der Patient selbst, ob sich eine manische Phase anbahne. Die Stimmung im Publikum ist gelöst. Als stünde über allem der Satz: Lasst uns aufbrechen!
Da meldet sich eine Psychotherapeutin zu Wort: „Ich war zunächst offen gegenüber Apps, hab sie meinen Patienten empfohlen. Es gibt viele Angebote im Bereich Depressionen. Aber ich mache das nicht mehr. Ich bin komplett zurückgerudert. Was ist, wenn eine App plötzlich nicht funktioniert? Haftet dann der Arzt? Da sind so viele Fragen ungeklärt."
Die euphorische Stimmung im Publikum ist dahin. Auch sie, eine Spielverderberin? Später, in der Kaffeepause, spreche ich mit ihr. „Ich hab total Bock auf Innovationen“, sagt sie, „aber am Ende trag ich doch die Verantwortung als Therapeutin. Ich stelle mir vor, ein depressiver Patient notiert in der App, er möchte nicht mehr leben und dann wird die App aktualisiert und keiner liest es, keiner kann reagieren?!“
In diesem Moment klingelt ihr Handy. Sie spricht kurz und kommt dann zu mir zurück. „Kein Scherz, wir hatten grad mal wieder Probleme mit der IT in der Praxis. Soviel zum Thema Digitalisierung in der Medizin.“
Auf dem Podium geht es inzwischen um die Telematikinfrastruktur. Dabei geht es, so heißt es offiziell, „um eine digitale Vernetzung aller Beteiligten im Gesundheitssystem“. Ein Beteiligter ist nicht so begeistert, natürlich ein Leistungserbringer. So werden hier Ärzte und Psychotherapeuten genannt. Der kritische Psychotherapeut ist gegen die zentrale Datenspeicherung. Außerdem hat er Sorge, dass mehr Digitalisierung nur eins bedeutet: noch weniger Patientenkontakt. Dafür bekommt er viel Schimpfe aus dem Publikum. Der Grundtenor: Je mehr KI wir bei der Diagnostik zulassen, desto mehr Zeit hat der Arzt wieder für den Patienten.
Ein junger Mann aus dem Publikum springt auf die Bühne: „Ich würde mir wirklich mal wünschen, dass weniger Bedenken geäußert würden, sondern wir alle die Chancen sehen.“ Viele jubeln und klopfen wie zu Uni-Zeiten auf den Tisch. Später berichtet der junge Mann, er habe vor Kurzem eine App auf den Markt gebracht, mit der sich Nebenwirkungen von Arzneimitteln leichter melden lassen.
Mein Sitznachbar, kein Leistungserbringer, erzählt mir von digitalen Lösungen aus China. Er spricht von „Patientenboxen“. Sie sähen aus wie Passbildautomaten und hießen Good Doctor. „Der Patient geht einfach rein, über Sensoren im Bildschirm wird seine Temperatur und sein Blutdruck und alles mögliche erfasst. Er nennt auch seine Beschwerden und erzählt die Vorgeschichte. Wenn nötig, wird ein Hausarzt via Video zugeschaltet. Am Ende erhält er eine Diagnose und ein digitales Rezept.“
Später greift ein Speaker dieses Thema auf und berichtet, dass es inzwischen mehr als Tausend solcher Boxen im China gäbe, vor allem in ländlichen Gebieten. Tja, und in Deutschland?, frage ich mich. Seit der Aufhebung des Fernbehandlungsverbotes ist ein Jahr verstrichen. Ich würde sagen, den richtigen Durchbruch gab es noch nicht. Woran liegt das?
„Stell dir vor, es gibt Telemedizin und keiner geht hin“, sagt ein Podiumssprecher über die Situation in Deutschland. Das will die junge Gründerin so nicht stehen lassen: „Wir müssen jetzt die GKV-Erstattung einführen. Und wir brauchen dringend die digitale AU und das E-Rezept, sonst bleibt die Telemedizin ein nettes Plauderstündchen zwischen Arzt und Patient. Es muss sich jetzt bei der Erstattung was tun, sonst machen wir uns lächerlich. Deutschland macht sich lächerlich.“
Das ist generell Konsens auf dem Kongress. Deutschland ist lahm. Die Deutschen sind zögerlich. Und ja, die Leistungserbringer sind sowieso die Bremser.
Immer wieder wird Estland genannt. Ein Vorreiter. Ein Vorbild. Ein mutiges Land. Irgendwann sagt aber auch einer, dass Estland nur 1 Million Einwohner habe. Da sei es leichter, Innovationen durchzuziehen als mit 80 Millionen Deutschen. „Mit 80 Millionen zaghaften Deutschen.“ Er grinst. Den letzten Satz kann er sich wohl nicht verkneifen.
Im Gegensatz zu den Deutschen im Allgemeinen kommt ein Deutscher im Speziellen überraschend gut weg. Die Rede ist von Jens Spahn. Er sei ein Anpacker, ein Antreiber. Seit Spahn im BMG sitze, herrsche eine Aufbruchsstimmung im Land. Beinah liebevoll zeigt ein Speaker während seiner Präsi ein Foto von Jens Spahn mit Smartphone. „Zum Glück lebt unser Gesundheitsminister die Digitalisierung.“
Auch hier kommen mahnende Worte aus dem Publikum. Spahns Gesetze seien übereilt. Manche sprechen davon, es ginge ihm nicht um die Sache, sondern um Machtspielchen. Natürlich geht es bei all den Diskussionen rund um Apps, KI, ePA (elektronische Patientenakte) und Telemedizin auch immer wieder um die Sicherheit der Daten. Die Gefahr, die bestehe, wenn personenbezogene Daten in falsche Hände geraten. Manche auf dem Podium reden die Gefahr klein, manche im Publikum reden zu viel über Gefahr.
„Die größte Gefahr der Digitalisierung ist die, dass wir sie nicht nutzen.“ So bringt es eine Medizinethikerin auf den Punkt.
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