Wenn der übergewichtige Max sich gut bei mir benimmt, darf er im Anschluss Burger essen und zocken, sagt die Mutter. Für mich als Kinderärztin ein alltägliches Szenario.
„Wenn du bei der Untersuchung schön mitmachst, dann gehen wir zur Belohnung zu McDonald’s. Und du darfst noch ein bisschen Computer spielen“, sagt die Mutter meines sechsjährigen übergewichtigen Patienten, nennen wir ihn Max, zu ihrem Sohnemann, bei dem ich gerade einige grobmotorische Defizite diagnostiziere. So etwas in der Art höre ich als Kinderärztin im Sozialpädiatrischen Zentrum relativ oft. Allerdings sehe ich auch relativ oft übergewichtige oder auch adipöse Kinder – und würde mir dann wünschen, die Belohnung wäre eher „Indoorspielplatz“, „Klettergarten“ oder „Schwimmbad“.
Von Übergewicht spricht man ab einem Body-Mass-Index (BMI) über der 90. Perzentile, von Adipositas ab einem BMI über der 97. Perzentile. In Deutschland sind derzeit ca. 15 % der Kinder und Jugendlichen übergewichtig und fast 6 % adipös. Noch bevor ich Max’ Mutter Genaueres erklären kann, unterbricht sie mich, denn sie sieht das gelassen:
Vermutlich. Aber in den letzten 40 Jahren haben die Adipositasraten bei Kindern, definiert über den BMI, weltweit um rund das 8-fache zugenommen, wie eine Metaanalyse von Daten aus 200 Ländern gezeigt hat.
Tatsächlich hat die körperliche Leistungsfähigkeit von den 1980er Jahren bis 2000 bei Kindern und Jugendlichen abgenommen, und motorische Defizite haben zugenommen; das jedenfalls legen Studien wie zuletzt 2017 nahe. Der Grund: Vermutlich verbringen die Kinder statt mit körperlicher Aktivität mehr Zeit mit audiovisuellen Medien.
so die Überzeugung der Mutter. Das ist nur bedingt richtig, versuche ich zu erklären, denn ein großer, wenn nicht der größte Teil der Kinder, die schon in jungen Jahren übergewichtig sind (gerade bis zum 6. Lebensjahr), bleibt dies auch in der Adoleszenz. Die Mutter bleibt entspannt:
Und genau das ist der Punkt. Zwar kommt es nicht nur auf den BMI an, sondern insbesondere auf die Fettverteilung und das Viszeralfett, das sicher auf den ersten Blick nicht eindeutig zu quantifizieren ist. Aber schon seit einigen Jahren wissen wir, dass bei Jugendlichen ein BMI schon im oberen Normbereich das spätere Risiko von Herz-Kreislauf- Erkrankungen und die kardiovaskukäre Sterblichkeit deutlich erhöht. Dies wurde aktuell im Rahmen des Kongresses der European Society of Cardiology belegt – und nicht nur der BMI, sondern auch erhöhter Blutdruck, erhöhte Cholesterinwerte und Rauchen in jungen Jahren erhöhen dieses Risiko deutlich.
Hinzu kommt, dass bei zahlreichen Krebsarten ein Zusammenhang mit Adipositas gesehen wird. Einhergehend mit einer zunehmend adipösen jungen Bevölkerung müssten also zunehmend auch jüngere Menschen von derartigen Malignomen betroffen sein. Eben dies haben aktuell Forscher um Siran Koroukian von der Universität Cleveland berichtet: Bei einer steigenden Zahl maligner Neuerkrankungen in fast allen Bevölkerungsgruppen und einer rückläufigen Tumorinzidenz bei über 65-jährigen stieg die Inzidenz im jüngeren Teil der Bevölkerung an – und dies war bei den adipositasassoziierten Krebsarten deutlich ausgeprägter als bei anderen.
Mal ganz einfach ausgedrückt: Es wird auch einzelne adipöse Kinder und Jugendliche geben, die erhöhte Blutdruck- und Cholesterinwerte haben oder rauchen und trotzdem neunzig Jahre alt werden. Wahrscheinlicher ist nach der Datenlage aber leider, dass Max und seine übergewichtigen oder adipösen Freunde früher sterben als ihre Altersgenossen – und das vermutlich an kardiovaskulären Krankheiten oder an einer Krebserkrankung. Vor allem, wenn ich jetzt schon sehe, dass Max außer Atem ist, nur weil er die Treppen hochläuft.
Die WHO zeigt sich in einem kürzlich erschienenen Bericht noch nicht zufrieden mit den bisherigen Maßnahmen. Das glaube ich aus meiner täglichen Erfahrung sofort. Wenn man über eine gesunde Ernährung und Lebensweise zu beraten versucht – vom Säuglingsalter über Schulverpflegung bis hin zum jungen Erwachsenen –, dann beißt man sich nicht selten die Zähne aus: „Der mag ja nichts anderes“ oder „Der macht ja Sport, Schulsport“.
Wahrscheinlich muss man größer denken, wie auch die WHO meint, und zwar im Sinne staatlicher regulatorischer Strategien. Ob das nun eine Besteuerung gezuckerter Getränke, eine Kennzeichnung von Lebensmitteln z.B. über ein Ampelsystem und eine Reduktion von an Kinder gerichteter Lebensmittelwerbung ist, bleibt zu diskutieren.
Was Max und seine Familie angeht, versuchen wir’s erst mal mit Eigenverantwortlichkeit: Wir vereinbaren nun gemeinsam mit der zuweisenden Kinderärztin eine Ernährungsberatung und Maßnahmen zur Gewichtskontrolle. Max allerdings quengelt. Eine Menge Arbeit steht bevor …
Bildquelle: Chris Bloom, flickr