Der Chefarzt führt seine Studenten an diesem Morgen auf die Intensiv. Das bedeutet Spannung, Herzklopfen und feuchte Hände. Was wird er ihnen zeigen? Noch wissen die angehenden Ärzte nicht, dass sie die Station weinend verlassen werden.
Als Studenten in der Kinderklinik hatten wir im Praktischen Jahr zweimal die Woche Stationsvisite, so hieß das wohl. Das hieß, wir sind dem Chefarzt hinterhergedackelt auf Station, um irgendetwas Spannendes anzugucken.
Windpocken beispielsweise. Oder Pfeiffersches Drüsenfieber. Oder auch mal nur ein Streckbett nach Oberschenkelfraktur. Ja, damals lagen solche Sachen noch im Krankenhaus herum.
An diesem Morgen folgten wir dem Großmuck auf die Intensivstation. Alleine das bedeutete schon Herzklopfen und feuchte Hände. Das konnte nur Aufregung bedeuten. Oder doch wieder „nur“ ein Frühchen mit hundert Schläuchen und Beatmung.
Am Ende haben dann aber alle geweint. Sogar der immer so taffe Martin, der eigentlich als Wahlfach Unfallchirurgie gewählt hatte, aber gerne in die anderen Fächer reinschnupperte.
Dieses Bild bot sich uns: Ein Zehnjähriger lag an vielen Schläuchen, er wurde beatmet. Die gegebenen Medikamente konnten nicht verhehlen, dass es hier um Leben und Tod ging.
Der Junge war schweißgebadet, die Gesichtsmuskeln verzerrt, die Arme und Beine mühselig durch Relaxantien und Narkotika entspannt, aber trotzdem gebeugt. Seine Muskeln waren ausgezehrt, aber definiert, als seien sie ständig unter Feuer.
Mein Bild aus der Vergangenheit trügt mich vielleicht, aber die angsterfüllte Athmosphäre ist mir noch immer präsent. Als ich später selbst Pädiatrieassistent auf genau dieser Station wurde, erzählten sie immer noch alle von diesem Patienten. Der Junge starb drei Tage nach unserer Visite.
Er hatte sich zwei Wochen vorher an einer Glasscherbe im Wald verletzt, beim Verstecken spielen. Er kam aus einem für mich nicht mehr erinnerlichen Ostblockland. Damals war die Stadt verschwistert mit der Stadt, in der ich die Ausbildung machte und in der die Kinderklinik mit jener Intensivstation stand.
Man hatte den Jungen aus seinem Land per Hubschrauber verlegt, weil alle dachten, die Deutschen könnten ihn retten. Konnten sie nicht.
Der Junge hatte eine Tetanusinfektion. Er war nicht geimpft.
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