Wann ist es sinnvoll oder nötig, als Arzt eine Zweitmeinung einzuholen? Ein Versuch, diese Frage zu beantworten: am Beispiel des Hodentumors.
Im Rahmen einer Pressemitteilung zum 71. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU) informiert die DGU über ihr Projekt der kostenlosen Zweitmeinung für Patienten mit Hodentumor. Grund für den Start des Projektes vor gut zehn Jahren war laut Projektleiter Prof. Mark Schrader die teilweise limitierte Erfahrung in der Therapie des Hodentumors in regionalen Gebieten. Dazu kommt der politisch motivierte Verbleib der Therapie in den regionalen Krankenhäusern oder Praxen und nicht ausschließlich an Zentren.
Bei der „Zweitmeinung Hodentumor“ werden nach erfolgter operativer Therapie, in den allermeisten Fällen der radikalen Orchiektomie, eine Vielzahl an Daten an das Zweitmeinungszentrum online versendet. Darunter histologische Befunde, Stagingergebnisse und Höhe von Tumormarkern.
Aufgrund dieser Daten empfiehlt das Zweitmeinungszentrum die weiterführende Therapie, welche beim Hodentumor und dessen unterschiedlichen Stadien vielfältig sein kann. Von Active Survelliance über verschiedene Zyklen Chemotherapie sowie Radiatio oder operativen Lymphknotenentfernung reicht hier das Spektrum, glücklicherweise in hohem Prozentsatz kurativ.
Die geringe Mortalität des Hodentumors, welche in Deutschland allerdings im Vergleich zu beispielsweise Norwegen oder den USA erhöht ist, weiter zu verbessern, aber auch Übertherapien zu vermeiden, ist Hauptziel der „Zweitmeinung Hodentumor“.
In der Pressemitteilung wird außerdem die Frage aufgeworfen, ob für jede Erkrankung oder Operationsindikation, wie beispielsweise Hüft-TEPs, eine Zweitmeinung erforderlich ist oder nicht. Ein gesetzlich verankerter Rechtsanspruch einer Zweitmeinung für Patienten besteht seit 2019 für gesetzlich versicherte Patienten aktuell nur für die Gebärmutterentfernung und die Mandeloperation. „Weitere Indikationen werden folgen“, schreibt die Kassenärztliche Bundesvereinigung auf ihrer Homepage. Bei diesen Operationen muss der Arzt aktiv auf das Recht einer Zweitmeinung hinweisen.
Unabhängig davon übernehmen viele Krankenkassen Zweitmeinungen vor allem vor geplanten orthopädischen Operationen. In Zeiten eines rasanten Wissenszuwachses und der Etablierung neuer Therapien, gerade im Bereich der Onkologie und bei seltenen Tumorerkrankung wie dem Hoden- oder Peniskarzinom, ist das eine berechtigte Frage, die in der Pressemitteilung aufgeworfen wird: Braucht es für jede Erkrankung oder vor jeder Operation eine Zweitmeinung?
Nun könnte man das Angebot des Zweitmeinungsportals auch als fehlendes Vertrauen in die onkologische Kompetenz der regionalen Kollegen interpretieren. Könnte, wohl gemerkt – denn ich denke, jeder Arzt sollte sich mit einer Zweitmeinung auseinandersetzen und, falls ein Unterschied zur eigenen geplanten Therapie besteht, diese auch kritisch hinterfragen.
Bei vielen onkologischen Erkrankungen gibt es ja bereits eine fachliche Zweitmeinung in Form von multidisziplinären Tumorboards, in den meisten Fällen findet diese allerdings im Anschluss einer operativen Therapie statt. Eine gewisse Sonderrolle spielt die Urologie insofern, da in diesem Fachgebiet eine mögliche medikamentöse Tumortherapie in vielen Fällen selbst, also von urologischen Praxen und Kliniken, und nicht durch onkologische Kollegen durchgeführt wird.
Ich denke, diese Art der Zweitmeinung durch Expertenzentren kann gerade bei seltenen Tumorentitäten mit teilweise verschiedenen Therpieoptionen sinnvoll sein und sollte auch in anderen Fachgebieten etabliert werden. Durch die Arbeit von „Zweitmeinung Hodentumor“ wurde immerhin jede 6. Therapiestrategie geändert, und zwar, ich hoffe, zum Besseren. Etwas irreführend ist allerdings der Name der Zweitmeinung, da der Patient bis auf die Einverständniserklärung zur Datenübermittlung nicht sehr involviert ist.
Mit Prof. Peter Albers habe ich mich auf dem DGU-Kongress zum Thema Zweitmeinung Hodentumor unterhalten. Das sagt er dazu:
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