Ich habe eine Patientin, die vor dem Balkan-Krieg geflohen ist. Ich behandle sie schon länger. Als Therapeut möchte ich, dass es ihr besser geht. Aber eine Gesundung kann für sie die Abschiebung bedeuten.
Eine Frau aus dem Balkan sitzt vor mir. Sie erzählt mir unter Tränen von ihrer Lebensgeschichte. Gewalt und Missbrauch überall, in der Familie, durch die Nachbarn und die Behörden. Sie lernte ihren Mann kennen und beide konnten vor dem Krieg fliehen. Deutschland kommt ihr immer noch wie ein Traum vor, ihre Kinder sprechen deutsch, sind gut in der Schule, beide Ehepartner arbeiten. Seit der Ankunft vor mehreren Jahren ist trotzdem nie wirklich Ruhe eingekehrt. Die Familie hat nur einen Duldungsstatus.
Duldung bedeutet, dass die geduldete Person ausreisepflichtig ist, jedoch aus einem bestimmten Grund nicht abgeschoben werden kann. Eine schwere Erkrankung wäre ein solches Abschiebungshindernis. Konkret müssen die Betroffenen in engen Zeiträumen zum Amt, wo über die weitere Duldung oder Abschiebung entschieden wird. Ich habe bezüglich der medizinischen Erkrankung, Lebenssituation und des Herkunftslands bereits sehr ähnlich geformte Familien betreut, wobei einige nach kurzer Zeit und andere erst nach Jahren von den Behörden erheblich unter Druck gesetzt wurden.
Die Geduldeten befinden sich in einem ewigen Spießrutenlauf zwischen den Behörden, ihren Anwälten, ihren Arbeitgebern und den Ärzten. Wer kann Auskunft geben, wie die Chancen stehen?
Nachdem ich viele dieser Menschen behandelt und mich mit Kollegen ausgetauscht habe, komme ich momentan zu dem Schluss: Das kann keiner so recht sagen. Eine Strategie scheint es zu sein, auf Zeit zu spielen. Wer psychisch oder körperlich schwer erkrankt ist, kann eigentlich nicht abgeschoben werden. Wer sich umbringen will oder umgebracht werden soll, wird nicht in ein Flugzeug gesetzt. In dem Falle würde der Pilot sicherlich nicht abheben. Das klingt menschlich und macht Hoffnung.
In der Behandlung dieser Patienten gerät man rasch in eine Doppelrolle. Der Mensch, der an einer posttraumatischen Belastungsstörung und an schweren Depression leidet, darf nicht gesund werden, weil sonst das monatliche Attest keine Rechtfertigungsgrundlage mehr hätte und die Duldung somit gefährdet wäre.
Meine Patientin nahm trotzdem ihre Medikamente und begann eine psychotraumatologische Behandlung.
Nun sitzt sie zum letzten Mal weinend vor mir. Ich werde die Arbeitsstelle wechseln, daher sahen wir uns zum letzten Termin. Zum Abschied sollten – auf Bitten des Anwalts – mein Oberarzt und ich noch in einem Attest Stellung zu vielen Fragen beziehen. Eine der Fragen stach heraus und machte alles vorher Gefragte nichtig. Sinngemäß lautete sie: Wenn diese Frau von zu Hause oder aus der Klinik mit der Polizei und einem Facharzt abgeholt wird, zur Not in Fixierung, zum Flughafen gebracht und in Begleitung dieses Arztes in ihr Heimatland zurückfliegen, dort am Flughafen angekommen von Fachärzten empfangen und in ein Krankenhaus gebracht würde, wie hoch ist in dieser Konstellation die Suizidgefahr einzustufen?
Ich soll hier also in schriftlicher gutachterlichen Form Stellung zu einem derart komplexen Thema nehmen? Soll ich mir anmaßen als Wahrsager aufzutreten und über die Lebensgefahr eines Menschen meine Einschätzung abzugeben?
Juristen hatten die Frage so formuliert. Für uns war eine Grenze erreicht, in diesem System und in unseren Köpfen. Ich war in eine Doppelrolle geraten: als Behandler und sozusagen Anwalt der Patientin, in dem man nun für das Leben argumentieren sollte? Die Behandlerrolle war über die Monate in den Hintergrund getreten, man versuchte die Frau schreibend in diesem Land und womöglich am Leben zu erhalten.
In Gesprächen, die ich anschließend mit Kollegen führte, erfuhr ich, dass viele von ihnen dazu übergegangen waren, keine Atteste mehr auszustellen. Denn ihre Patienten wurden teilweise von der geschlossenen Station abgeholt und abgeschoben. Scheinbar kann keine Erkrankung die Menschen davor schützen. Im Zweifel wird alles durch die erwähnte Frage zu Nichte gemacht.
Als Psychiater versuche ich zu dem, was ich mit dem Patienten erlebt habe, innerliche Position zu beziehen. Die Medizin ist primär ein Fach der Erfahrung und des Erlebens, dadurch gewinnt man eine klinische Routine und entwickelt mit der Zeit eine therapeutische Haltung zu den Dingen.
Therapeutisch ist das Verfassen von Attesten aber nicht. In diesem Fall fühlte ich mich instrumentalisiert und auch missbraucht. Im Rechtssystem scheint Verwirrung zu herrschen, wie man mit psychiatrischen Patienten umgehen soll. Soll die Verantwortung für diese Patienten aus dem Gerichtssaal zum Arzt verschoben werden? Man fragt sich auch, wie es den Ärzten geht, die solche Abschiebungen begleiten.
Als Arzt möge man sich vor der Einnahme einer Doppelrolle schützen, solche Konstellationen können einen Menschen auf Dauer innerlich zerreißen.
Am Ende des Tages und der Sprechstunde wird mir noch ein Kurzkontakt in den Kalender geschoben. Der Mann möchte lediglich ein Rezept abholen. Er kommt aus Ungarn und für einen Moment vergesse ich, dass Ungarn in der EU ist und frage, wie es denn mit seiner Duldung laufe? Der Mann lacht, zieht seinen Pass vor und sagt: „Damit kann ich hier bleiben, solange ich will.“
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