Seit dem 1. Januar 2011 gilt das Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes. Unser AMNOG hat längst nicht alle Kinderkrankheiten überstanden und muss als „lernendes System“ dringend nachsitzen. Eine Bilanz aus rund 150 Bewertungsverfahren.
Bereits Ende 2009 hatten Unionsvertreter im damaligen Koalitionsvertrag vereinbart, den Arzneimittelmarkt neu zu ordnen. Mit ihrem AMNOG wollten sie wenig überraschend Kosten sparen, aber auch innovativen Präparaten den Zugang zum Markt erleichtern. Hersteller müssen seit 1. Januar 2011 einen Zusatznutzen gegenüber zweckmäßigen Vergleichstherapien belegen. Danach handeln pharmazeutische Hersteller mit dem GKV-Spitzenverband Erstattungspreise aus.
Nach fünf Jahren ziehen Verantwortliche eine positive Bilanz. „Wir sehen die frühe Nutzenbewertung insgesamt als einen Erfolg, weil sie wichtige Erkenntnisse über die therapeutischen Effekte neuer Wirkstoffe geliefert hat“, sagt Professor Josef Hecken, unparteiischer Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA). „Das AMNOG erfüllt insoweit in vollem Umfang seine Funktion, echte Innovationen von Scheininnovationen und damit die ‚Spreu vom Weizen‘ zu trennen und durch Subgruppenbildungen dafür zu sorgen, dass Innovationen denjenigen Patientengruppen zugutekommen, die davon auch profitieren.“ Hersteller teilen die optimistische Sicht keineswegs. Etliche Präparate, darunter Canagliflozin (Invokana®), Insulin degludec (Tresiba® / Xultophy®), Lixisenatid (Lyxumia®), Mirabegron (Betmiga®), Retigabin (Trobalt®) oder Vortioxetin (Brintellix®), fielen durch. Laut Angaben des Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) wurde lediglich in 54,4 Prozent aller Fälle ein Zusatznutzen anerkannt. Bei bis zu 80 Prozent aller Ablehnungen führten formale, nicht pharmazeutische Gründe zum negativen Votum. „Marktrücknahme, Marktmeidung und geringe Versorgungsgrade insbesondere gegen chronische Erkrankungen sind Realität nach fünf Jahren AMNOG“, so BPI-Chef Dr. Martin Zentgraf. Verbandsangaben zufolge seien 20 Prozent aller bewerteten Arzneimittel aus heimischen Apotheken verschwunden. Gleichzeitig habe sich die Zahl an europaweit zugelassenen Präparaten ohne Markteinführung in Deutschland von fünf auf 23 Prozent erhöht.
Als möglichen Grund dieser Misere nennen Industrieverbände in erster Linie Vergleichstherapien. Zulassungsstudien werden per se nicht konzipiert, um einen Mehrwert gegenüber bestimmten, vom G-BA definierten Benchmarks nachzuweisen. Deshalb wünschen sich Hersteller mehr Beratung, aber auch mehr Akzeptanz für international anerkannte Methoden. Ein Vorschlag wäre, medizinische Fachgesellschaften stärker bei der Auswahl von Behandlungsstandards mit einzubinden. Verantwortliche vergessen jedoch allzu oft die eigentliche Zielgruppe, sprich Patienten. Zwar fordert der Gesetzgeber, Betroffene einzubinden. In der Praxis gelingt das nur recht selten. Deshalb hat das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) zwei neue Tools erprobt: den Analytic Hierarchy Process beziehungsweise die Conjoint Analysis. Beide Verfahren erwiesen sich als praxistauglich.
Von der Patientenpräferenz zur medizinischen Auswahl: „Die Ärzte können in der Praxis noch zu wenig mit der subtilen Bewertung des Zusatznutzens und seiner Einteilung in fünf Kategorien beim Ausmaß und drei Stufen bei der Wahrscheinlichkeit anfangen“, weiß Professor Dr. Dieter Cassel, Universität Duisburg-Essen. „Hinzu kommt noch die Stratifizierung der Patienten beziehungsweise das Slicing der Präparate durch den G-BA, die bisher zu durchschnittlich zwei und maximal neun meist unterschiedlich bewerteten Subgruppen geführt haben.“ Organisatorische Probleme machen die Sache nicht leichter. Laut TK- Innovationsreport 2015 wurden von 20 untersuchten Präparaten aus unterschiedlichen Gründen nur zwölf vollständig bewertet. Trotzdem taucht mehr als die Hälfte aller Pharmaka zeitnah in Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften auf. Kein Wunder: Umfragen zufolge treffen 30 Prozent aller Ärzte ihre Entscheidung zur Verordnung neuer Arzneimittel aufgrund von Leitlinienempfehlungen. Nur 15 Prozent arbeiten mit Informationen aus der frühen Nutzenbewertung. „Wenn das AMNOG endlich in der Arztpraxis ankommen und eine echte Entscheidungshilfe sein soll, müssen ausnahmslos alle neuen Arzneimittel auf ihren patientenrelevanten Zusatznutzen bewertet werden“, fordert Professor Dr. Gerd Glaeske von der Universität Bremen. Und Birgit Fischer, Hauptgeschäftsführerin des vfa, ergänzt: „Selbst Arzneimittel, denen im AMNOG-Verfahren ein Zusatznutzen bestätigt wurde, kommen trotzdem nicht in ausreichendem Maße bei den Patienten an.“ Je nach Therapie erhalten ein bis 60 Prozent der Zielpopulation neue, innovative Pharmaka. Kristina Schröder (CDU) zufolge üben „kassenärztliche Vereinigungen mit Instrumenten wie Quoten oder Ampeln immensen Druck auf Ärzte aus, AMNOG-Produkte möglichst sparsam zu verschreiben“.
Angesichts aktueller Zahlen wundert sich darüber niemand. TK-Chef Dr. Jens Baas erwartete durch das AMNOG jährliche Einsparungen von zwei Milliarden Euro. In 2014 waren es lediglich 320 Millionen. „Die wirtschaftliche Entlastung der gesetzlichen Krankenversicherungen ist auf einem homöopathischen Niveau“, so Baas. Er empfiehlt, Erstattungsbeiträge rückwirkend ab dem Tag der Markteinführung anzuwenden – und nicht erst ab dem zweiten Jahr. Dr. Christoph Straub, Chef der Barmer GEK, meldete sich bei der Vorstellung seines Arzneimittelreports 2015 mit weiteren Vorschlägen zu Wort: „Für besonders versorgungsrelevante Arzneimittel sollte es künftig eine Schnellbewertung direkt bei Markteintritt und eine Kosten-Nutzen-Bewertung spätestens nach fünf Jahren geben“ – unter medizinischen, aber auch unter gesundheitsökonimischen Aspekten. Straub sieht hier an erster Stelle Präparate mit einem absehbaren Jahresumsatz von mehr als 80 Millionen Euro. Jetzt sind Gesundheitspolitiker am Zuge. In dieser Legislaturperiode gelten große Änderungen beim AMNOG als unwahrscheinlich. Warten wir auf den nächsten Koalitionsvertrag.