Erkrankungen des Nervensystems werden oft erst dann erkannt, wenn die äußerlichen Symptome nicht mehr zu übersehen sind. Das müsste nicht sein: Ein Blick ins Auge gibt oft unübersehbare Hinweise.
In den kommenden Jahren wird sich die Zahl der neurodegenerativen Erkrankungen weltweit verdoppeln. Diese Expertenprognose ist sicher – ungewiss ist dagegen, wie die Gesundheitssysteme diese Zusatzbelastung stemmen sollen. „Wenn wir aber den Ausbruch einer Alzheimer Demenz um fünf Jahre verzögern könnten,“ so Rainer Leitgeb von der Universität Wien, „ist das insbesondere nicht nur ein Vorteil für Betroffene und Angehörige, es würde auch Ressourcen für intensive Behandlungen sparen. Wir sprechen hier von Milliarden Euro.“ Leitgeb leitet das Projekt MOON. Die Abkürzung steht für Multimodal Optical Diagnosis of Ocular and Neurodegenerative Disease.
In wenigen Jahren soll die Diagnose für neurologische Erkrankungen ganz ohne Hirnscan nur mit einem Blick in die Augen möglich sein. Kann das funktionieren? Bei Stoffwechselkrankheiten wie Diabetes liefert die genaue Untersuchung der Netzhaut bereits verlässliche Informationen. Eine diabetische Retinopathie lässt sich heute sehr früh feststellen. Mit Hilfe künstlicher Intelligenz kann der Arzt zum Beispiel eine proliferative von einer nicht proliferativen Retinopathie unterscheiden und hochauflösende Bilder mit Krankheitsverläufen vergleichen. Der Blick ins Auge kann so auch eine Blutabnahme ersparen.
„Die Retina ist im Grunde ein Proxy dafür, was im Gehirn geschieht“, beschreibt Steven Silverstein von der University of New Jersey die Bedeutung der Augenuntersuchungen. Der Netzhaut-Scan erlaube mittels modernster Methoden, pathologische Prozesse im zentralen Nervensystem frühzeitig zu erkennen.
Dabei kommt es vor allem auf zwei Aspekte an: die Retina und den Nervus opticus. Beide entstehen aus dem gleichen Embryonalgewebe und weisen viele weitere Gemeinsamkeiten auf. Das betrifft anatomische Ähnlichkeiten, aber beispielsweise auch die Immunabwehr, die in beiden Geweben ähnlich funktioniert.
US-amerikanische Forscher publizierten im November vergangenen Jahres eine Untersuchung an Alzheimer-Patienten. Sie verglichen dabei die Netzhäute einer gesunden Kontrollgruppe mit denen ihrer Probanden, die einen erhöhten ß-Amyloid-Spiegel aufwiesen, dabei aber noch keine Symptome der Krankheit zeigten. Die foveale avaskuläre Zone war bei dieser Gruppe um etwa ein Drittel größer als bei den Kontrollen.
Weitere Hinweise auf die Krankheit lieferten Untersuchungen von Wissenschaftlern der University of North Carolina. Alzheimer-Patienten zeigten dort deutliche Veränderungen der Gefäße sowie der Dicke der inneren plexifomen Ganglionschicht. Die Technik, die die Forscher dabei anwendeten, bestand aus einer Kombination von optischer Kohärenztomografie (OCT) und Angiografie.
Der Retina-Scan mittels OCT ist der normalen Ansicht in den Augenhintergrund um ein Vielfaches überlegen. In der Diabetes-Forschung ist die ultragenaue Aufnahme inzwischen fast schon Routine. Bei einer Aufnahme entsteht ein Bild, das mit 65 Mio. Bildpunkten bei 40.000 Scans innerhalb etwa einer Sekunde ein extrem scharfes Ergebnis liefert.
Die Ansicht auf feinste Strukturveränderungen im Auge scheint auch Hinweise auf die Hintergründe einer immer noch rätselhaften psychischen Erkrankung, der Schizophrenie, zu liefern. Hier sind bisher nur Risikofaktoren bekannt. Dank der neuen Werkzeuge erkannten die Forscher jetzt, dass die kleinen Venen in den Augen möglicher Schizophreniepatienten deutlich größer als bei der Kontrollgruppe waren. Auch die gesamte Retina war im Vergleich deutlich dünner. Ein geringeres Volumen bei allen retinalen Schichten entsprach dabei auch Volumenveränderungen im Gehirn, die mit Kernspinaufnahmen vermessen wurden.
Anatomie des Auges. Die Retina ist eine ca. 200 µm dicke Gewebsschicht, die das Innere des Auges auskleidet (hier gelb). Eine detaillierte Bildbeschreibung gibt es hier. © Chabacano, Wikimedia commons.
Betrachtet man nur die retinale Nervenfaserschicht (RNFL), ergibt sich sogar ein direkter Bezug zwischen Krankheitsdauer und Volumenveränderung, wie Wissenschaftler der Uniklinik Ulm feststellte. Ein ganz ähnliches Phänomen trat auch bei Patienten mit einer bipolaren Störung auf. Die Massereduktion der grauen und weißen Schicht im Gehirn entsprach hier jener in der Netzhaut. Allerdings konnten nicht alle durchgeführten Studien anderer Teams diese Korrelation bestätigen.
Die Elektroretinografie ergänzt die Reihe an Messwerkzeugen für Veränderungen in der Anatomie des Auges. Als einfacher und minimalinvasiver Sensor zeichnet sie die elektrischen Impulse auf Lichtreize mit Elektroden auf. Schon vor knapp zehn Jahren bemerkten Ophtalmologen die schwächere Reaktion auf Licht bei Jugendlichen mit genetisch bedingtem erhöhtem Risiko, an Schizophrenie zu erkranken. 2015 bestätigten Studien an erwachsenen Trägern der Krankheit diesen Hinweis auf die Erkrankung.
Ein weiteres wichtiges Zielgebiet der „Augenblicks“-Diagnose ist die Multiple Sklerose. Der Nervus opticus ist oft schon vor den ersten äußerlich erkennbaren Symptomen der Krankheit lädiert. Einen Biomarker gerade für dieses frühe Stadium der Krankheit gibt es jedoch nicht. Eine Kernspinaufnahme, die diese Schäden darstellen könnte, ist wegen der ständigen Augenbewegung schwierig. Die OCT bietet jedoch eine 1.000-fach höhere Auflösung. Mit der Aufnahme innerhalb weniger Sekunden erhält der Neurologe ein Bild aller zehn Retinaschichten in mikroskopischer Auflösung.
Auch hier korrelieren die RNFL-Dicke mit dem Gehirnvolumen, die Dicke der inneren Körnerschicht (INL) mit dem Volumen der per Kernspin sichtbaren T2-hyperintensiven Entzündungsherde sowie die Dicke der äußeren Körnerschicht mit der fortschreitenden Neurodegeneration. Die Auflösung erlaubt in diesem Fall sogar, axonale Schäden von Läsionen am Neuron zu unterscheiden.
Zusammen mit dem „Low Contrast Letter Acuitiy“-Test (dem Erkennen von Buchstaben bei geringem Kontrast) kann mittels solcher Aufnahmen der weitere Verlauf der Krankheit prognostiziert werden. Auch sei die Darstellung neurodegenerativer Prozesse bereits mehrfach in klinischen Studien zur Evaluation neuer Medikamente genutzt worden, berichten Experten des Universitätsklinikums Dresden.
Eine verringerte Sehschärfe und Ophthalmoplegie können nicht zuletzt auf intracraniale Tumoren hindeuten. 19 von 20 solcher Tumoren zeichnen sich durch einen progressiven Sehverlust aus – oft Wochen oder sogar Monate, bevor der Tumor im Gehirn eindeutig erkannt wird. Auch Veränderungen, die auf einen Schlaganfall hindeuten, zeigen sich im und am Auge.
In der Zukunft könnte diese Form der Diagnostik Alltag in neuropsychiatrischen Praxen sein. Erste Untersuchungen mit einem mobilen OCT-Gerät zeigen einen erkennbaren Unterschied zwischen Schizophrenie-Patienten und solchen ohne die Krankheit. Sollten weitere Studien diese Ergebnisse bestätigen, könnte die OCT bald Teil der psychiatrischen Untersuchungen werden.
Dass die ophthalmologische Untersuchung tatsächlich für ein echtes Umdenken in der Diagnostik mentaler Störungen gesorgt hat, verdeutlicht Schizophrenie-Experte Silverstein: „Ich arbeite jetzt schon seit 30 Jahren im Bereich Sehen und Schizophrenie. Niemals ist jemand auf die Idee gekommen, den Patienten ins Auge zu schauen.“
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