Nähern wir uns einer Katastrophe? Laut einem NDR-Bericht ja. Denn Pharmariesen stellen keine neuen Antibiotika mehr her, obwohl bakterielle Resistenzen immer weiter zunehmen. Ist die Forschungsuhr tatsächlich stehengeblieben oder ist das Angstmache?
„Tödliche Gefahr: Das Ende der Antibiotika?“, so lautet die Überschrift eines Beitrags von „Panorama“. Zitiert wird darin auch der Satz „Wir sehen, dass mehr und mehr Antibiotika ihre Wirkung verlieren“, den Peter Beyer von der Weltgesundheitsorganisation äußert. „Wir brauchen mehr Antibiotikaentwicklung, damit wir nicht irgendwann einfach dastehen und nicht mehr wissen, wie wir die Infektionen behandeln sollen“.
Dem Experten zufolge hätten fast alle großen Unternehmen ihre Entwicklungsprogramme auf Eis gelegt. „Jedes Jahr steigen noch ein oder zwei aus, weil sie andere Bereiche priorisieren, in denen sie mehr Geld verdienen können.“ Dazu zählen u.a. Johnson & Johnson, Novartis, Sanofi sowie AstraZeneca.
Ein Problem des Geldes
Auch der Verband Forschender Arzneimittelhersteller (vfa) äußert sich vergleichsweise kritisch. Zwei kürzlich zugelassenen sowie sechs zur Zulassung eingereichten Antibiotika seien wichtige Gegenmaßnahmen; dies reiche aber nicht aus, heißt es in einer Mitteilung. „Neben Maßnahmen gegen die Entstehung und Verbreitung von Resistenzen werden auch neue Antibiotika und andere antibakterielle Therapien sowie Impfstoffe gebraucht“, sagt Dr. Siegfried Throm, Geschäftsführer Forschung beim vfa.
Soweit, so bekannt. Nur woran hapert es? „Fakt ist, dass sich die Entwicklung neuer Antibiotika kaum refinanzieren lässt, da diese nur im Notfall eingesetzt werden sollen“, erklärt Throm. „Deshalb muss das Anreizsystem zur Entwicklung von Antibiotika in Europa und in Deutschland verbessert werden. Das betrifft insbesondere die adäquate und zeitnahe Vergütung neuer Antibiotika.“
Auch Peter Liese (CDU), Gesundheitsexperte der Europäischen Volkspartei, schlägt in die Kerbe. Auf Facebook bzw. auf seiner Website schreibt er: „Der Mangel an neuen Antibiotika ist vor allen Dingen Politikversagen.“ Man könne Unternehmen nicht vorwerfen, nicht in ein Produkt zu investieren, bei dem sie am Ende massiv draufzahlen.
„Seit vielen Jahren setze ich mich für einen gesetzlichen Rahmen ein, der die Unternehmen in die Lage versetzt und gegebenenfalls verpflichtet, diese Forschung durchzuführen.“
Die Rahmenbedingungen sind bekannt. Aus schätzungsweise 5.000 bis 10.000 neuen Substanzen entsteht im Schnitt nach 13,5 Jahren ein Wirkstoff, den Arzneimittelbehörden zulassen. Bis dahin summieren sich alle Kosten auf 1,0 bis 1,6 Milliarden US-Dollar, was sich nicht immer lohnt. Während Zytostatika oder Antidiabetika pro Jahr Umsätze im Milliardenbereich einbringen, sind es bei Antibiotika im gleichen Zeitraum Summen von mehreren 100 Millionen US-Dollar.
Das Ende der Welt ist nah
Liese und Throm bestätigen mit ihren Einschätzungen zwar manche Kritikpunkte von NDR- und ARD-Recherchen. Trotzdem scheint es überzogen, zu behaupten, die „gesamte moderne Medizin steht auf dem Spiel“, wie Medien behaupten. Dazu ein paar Hintergründe: Die WHO hat anhand klinischer Daten Kriterien zur Priorisierung der Antibiotika-Forschung erarbeitet.
Derzeit befinden sich im Bereich der nicht erregerspezifischen Antibiotika 24 Wirkstoffe aller WHO-Klassen in fortgeschrittenen Entwicklungsphasen, davon sechs in Phase II, zehn in Phase III, sechs im EMA-Zulassungsverfahren, und zwei wurden schon zugelassen, aber noch nicht vermarktet. Hinzu kommen 20 Wirkstoffe gegen einzelne Erreger, davon sind elf in Phase II, acht in Phase III, und ein Molekül wurde bereits zugelassen.
Mit wenigen Ausnahmen (MSD, GSK) entwickeln kleine, eher unbekannte Firmen die Antibiotika. Sollten Pharmazwerge Erfolg haben, landen sie schnell im Einkaufswagen von Giganten – „Fusion statt Forschung“ ist seit Jahren eine Strategie großer Unternehmen. Daran wird sich in Zukunft kaum etwas ändern. Umso interessanter ist die Frage: Welche denkbaren Wege aus dem Dilemma gibt es?
Strategie 1: Hersteller gezielt fördern
Der pharmazeutischen Industrie geht es wirtschaftlich nicht schlecht. Unternehmen arbeiten im Gegensatz zu Hochschulen oder außeruniversitären Zentren eben profitorientiert. Darüber mag man sich ärgern, es ändert aber nichts an Gesetzen des Marktes. Um die Antibiotikaforschung attraktiv zu machen, müssten gezielte Förderprogramme entwickelt werden – vielleicht sogar in Form eines globalen Fonds. Alternativ könnten große Arzneimittelbehörden wie die FDA und die EMA kooperieren. Und selbst einzelne Länder haben genug Potenzial für Finanzspritzen.
Dies könnte über öffentlich-private Partnerschaften (Public-Private-Partnerships, PPP) abgebildet werden. Der private Partner, sprich der pharmazeutische Hersteller, übernimmt Forschung und Entwicklung bis zur Zulassung. Diese Arbeiten werden aus öffentlicher Hand finanziert, wobei der Staat Sorge trägt, dass gemeinwohlorientierte Ziele nicht auf der Strecke bleiben, sprich Arzneimittel danach nicht zu Mondpreisen verkauft werden.
Strategie 2: Neue Arzneistoffe müssen nicht von der Industrie kommen
Das Konzept bleibt nahe an der bekannten Arbeitsteilung: Hersteller forschen, andere bezahlen. In Stein gemeißelt ist das keineswegs, auch andere Wege sind denkbar. Die Bundesregierung investiert 18,3 Milliarden Euro in Bildung, Forschung und Wissenschaft (2019). Von staatlichen Mitteln profitieren im Bereich der Infektiologie viele Hochschulen, das Deutsche Zentrum für Infektionsforschung, das Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie oder das Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung.
Sie teilen das gleiche Schicksal: Forscher arbeiten äußerst erfolgreich, auch bei der Wirkstoffentwicklung. Sie kommen über präklinische Studien oder über klinische Studien der Phase I aber nicht hinaus. Ihnen fehlen schlichtweg die Ressourcen für Phase-II- oder Phase-III-Studien. Die Regierung könnte sich entschließen, mit Fördergeldern Strukturen in öffentlicher Hand stark auszubauen, um von monetären Interessen unabhängiger zu werden. Auch hier lautet die Devise „think big“. Sollten sich Europa und die USA zu solchen Schritten entschließen, wäre der Erfolg noch größer.
Strategie 3: Neue Prinzipien statt ewiger „Me-too“-Synthesen
Auch inhaltlich gibt es Luft nach oben. Ein Großteil aller Antibiotika in der Pipeline gehört zu bekannten Wirkstoffklassen mit geringen Strukturabweichungen („Me-Too-Präparate“, also Nachahmerprodukte). Genau hier gilt es, über den Tellerrand zu blicken.
Impfstoffe lassen sich gegen etliche bakterielle Infektionen entwickeln. Derzeit werden Vakzine zur Prävention von Tuberkulose, Streptokokken der Gruppe B, Clostridium difficile und verschiedener E. coli-Serotypen in Phase-II- bis Phase-III-Studien erforscht.
Außerdem untersuchen Wissenschaftler Moleküle mit völlig neuen Wirkprinzipien: etwa Teixobactin, ein Molekül, mit dem sich Bakterien im Boden gegen Konkurrenten wehren. „Teixobactin greift an vielen entscheidenden Stellen in den Aufbau der Zellwand an und macht bakterielle Anpassungsstrategien nahezu unmöglich“, sagt Dr. Tanja Schneider vom Deutschen Zentrum für Infektionsforschung.
Prof. Brice Felden vom INSERM und von der Université de Rennes experimentierte erfolgreich mit bakteriellen Toxinen, aus denen er Peptidomimetika synthetisierte. Wie der Name schon sagt, leiten sich solche Eiweiße von natürlichen Bakterienpeptiden ab, wurden jedoch gekürzt und chemisch modifiziert. Von 20 untersuchten Molekülen erwiesen sich zwei bei Mausmodellen mit schwerer Sepsis oder Hautinfektion als wirksam gegen resistente Staphylococcus aureus und Pseudomonas aeruginosa.
Diese Idee steckt auch hinter Artilysin®, einer Technologie-Plattform von Lysando: Synthetische, maßgeschneiderte Peptide zerstören die Zellwand von Bakterien. Danach werden sie enzymatisch abgebaut. Sie bekämpfen resistente Keime, ohne selbst Resistenzen auszulösen.
Bakteriophagen zerstören ein Bakterium. Quelle: Dr Graham Beards / Wikipedia. CC BY-SA 3.0
Es geht aber auch ganz ohne biotechnologische oder chemische Wirkstoffe. In Ländern der früheren Sowjetunion therapieren Forscher seit Jahrzehnten Patienten experimentell mit Bakteriophagen, sprich Viren, die nur Bakterien befallen. Ihre Phagentherapien scheinen auch bei multiresistenten Keimen erfolgreich zu sein. Doch die Datenlage ist mehr als dürftig.
Mittlerweile fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ein Projekt namens „Phage4Cure“. Ziel ist, anhand von Pseudomonas aeruginosa beispielhaft einen qualitätsgesicherten Prozess zur Phagentherapie aufzubauen. Belgien erlaubt die Behandlung schon jetzt in Einzelfällen.
Kein „Weiter wie bisher“
Als Fazit bleibt: Ohne Forschung geht es nicht. Ob innovative Therapien aus Hochschulen, kleinen Start-ups oder großen forschenden Herstellern kommen, kann behandelnden Ärzten egal sein.
Bildquelle: Марьян Блан, Unsplash