US-Studenten laufen Sturm gegen Vorbilder ohne weiße Weste. Viele ihrer früheren Idole waren der Sklaverei nicht abgeneigt oder frönten rassistischen Idealen. Deutschlands Ärzteschaft tut sich vergleichsweise schwer, ihre braune Vergangenheit aus Lehrbüchern zu tilgen.
Rassisten raus: Studenten der Princeton University, der University of Oregon sowie der University of Maryland säubern ihren Campus von falschen Vorbildern. Sie verbannen alle Namen früherer Gelehrter mit rassistischem Gedankengut aus ihrer Wissenschaftskultur. Deutschland folgt diesem Vorbild nicht ansatzweise. Die medizinisch-wissenschaftliche Literatur ist bis heute gespickt mit Namen brauner Vordenker.
Besonders häufig befassten sich Ärzte in dunkler Zeit mit Adolf Hitlers „Rassenhygiene“. Bestes Beispiel ist der Gynäkologe Carl Clauberg (1898 bis 1957). Er schloss sich schon 1933 der NSDAP und der SA an. Nach anfänglichem Desinteresse brauner Eliten fand Clauberg in Heinrich Himmler einen Förderer. Ab Ende 1942 begann der Arzt mit „Experimenten“ in Auschwitz-Birkenau. Er versuchte, über künstlich herbeigeführte Entzündungen Eileiter zu verkleben, was zur Unfruchtbarkeit geführt hätte. Etliche Frauen jüdischer Herkunft starben. Später arbeitete Clauberg in Ravensbrück weiter, geriet in russische Kriegsgefangenschaft und kehrte zurück nach Kiel. Bevor es zur Eröffnung eines Gerichtsverfahrens kam, starb er an einem Schlaganfall. Noch heute erinnert der Name eines Tests zur Bestimmung der biologischen Aktivität von Progesteron an ihn.
Kein Einzelfall, wie die Biographie Hans Reiters (1881 bis 1969) zeigt. Der Bakteriologe und Hygieniker beschrieb 1916 erstmals die reaktive Arthritis mit Konjunktivitis, Urethritis und Arthritis als Zweiterkrankung nach gastrointestinalen oder urogenitalen Infekten, bekannt als Reiter-Syndrom. Er war ab 1933 Präsident des Reichsgesundheitsamts und arbeitete in Ausschüssen zur „Rassenpolitik“ mit. Nach zwei Jahren in amerikanischer Gefangenschaft praktizierte Reiter bis zur Pensionierung in der Kasseler Königin-Elena-Klinik.
Neben Gynäkologen und Bakteriologen nutzen auch Gehirnforscher die Gunst der Stunde. So geht die wissenschaftliche Erstbeschreibung von Neurodegenerationen mit Eisenablagerung im Gehirn auf Julius Hallervorden (1882 bis 1965) und Hugo Spatz (1888 bis 1969) zurück. Ab 1933 wurde Hallervorden förderndes Mitglied der SS. Zwischen 1940 und 1945 erhielt sein Institut rund 700 Gehirne psychisch kranker Patienten, die Mediziner im Zuge von „Euthanasie“-Programmen getötet hatten. Zusammen mit Spatz, der 1938 NSDAP-Mitglied geworden war, nahm er an Besprechungen zum „T4“-Tötungsprogramm teil. Beiden Forschern ging es um die Frage, wer Leichen zur Untersuchung bekommt. In einem Brief an den Präsidenten des internationalen Gerichtshofs in Nürnberg dementiert Hallervorden seine direkte Beteiligung an „Euthanasie“-Programmen. Hallervorden und Spatz arbeiteten nach Kriegsende viele Jahre als Hirnforscher in der Max-Planck-Gesellschaft. Noch heute erinnert die Spatz-Stiefler-Reaktion, ein Eisennachweis, an Hugo Spatz. Sein Habilitand Franz Seitelberger (1916 bis 2007) bekam ebenfalls Präparate von ermordeten Patienten. Die nach ihm benannte Seitelberger-Krankheit steht für infantile neuroaxonale Dystrophien.
Von der Tötung psychisch kranker Menschen profitierten nicht nur Hallervorden, Spatz und Seitelberger. Hans Joachim Scherer (1906 bis 1945) arbeitete im neuropathologischen Laboratorium der Universität Breslau mit Gehirnen von Kindern, die in Loben ermordet worden waren. Ärzte benennen die zerebrotendinöse Xanthomatose nach ihm. Scherer wurde nie verurteilt; er starb bei einem Luftbombenangriff Ende des Zweiten Weltkriegs.
Auch der deutsch-arabische Arzt Jussuf Ibrahim (1877 bis 1953) beteiligte sich an staatlichen Tötungsprogrammen. Ibrahim leitete schwerstgeschädigte kleine Patienten an die „Kinderfachabteilung“ des Landeskrankenhaus Stadtroda weiter. Er wusste nachweislich vom „Euthanasie-Programm“ und sprach in Einzelfällen sogar entsprechende Empfehlungen aus. Bis zu seinem Tode blieb Ibrahim hochdekorierter Inhaber des Lehrstuhls für Kinderheilkunde an der Universität Jena. Erst ab den späten 1990er-Jahren begannen Historiker, das unliebsame Erbe aufzuarbeiten. Sein Name verschwand nach und nach aus dem Jenaer Stadtbild. Medizinische Lehrbücher bezeichnen eine Soor-Dermatomykose immer noch als Beck-Ibrahim-Syndrom.
Von der Pädiatrie zur Angiologie. Wissenschaftlicher Schwerpunkt des Internisten Hans Eppinger junior (1879 bis 1946) waren Leber- und Kreislauferkrankungen. Dazu zählten unter anderem chronisch-rezidivierende Entzündungen und Thrombosen der Pfortader und der Milzvene als Cauchois-Eppinger-Frugoni-Syndrom. Im Konzentrationslager Dachau führte Eppinger Menschenversuche durch, indem er Häftlinge Meerwasser trinken ließ. Von den „Studien“ erhoffte man sich neue Erkenntnisse zum Überleben schiffbrüchiger Soldaten. Einen Monat vor dem Nürnberger Ärzteprozess nahm sich Eppinger das Leben.
Angesichts dieser historischen Last besteht dringender Handlungsbedarf. Deshalb organisierte Cesare Efrati, Rabbiner und Arzt am Israelitischen Krankenhaus in Rom, Mitte 2015 ein Symposium. Efrati lud über 100 Ärzte, Medizinhistoriker, Soziologen und Philosophen ein. Sie identifizierten 15 Krankheitsbilder beziehungsweise Methoden mit brauner Vorgeschichte im Namen. Die Bundesärztekammer rät jetzt, „das Anliegen auf die internationale Ebene zu heben und die Frage einer geeigneten Nomenklatur für Krankheiten in den entsprechenden internationalen Gremien, etwa dem Weltärztebund, zu thematisieren“: ein langwieriges Unterfangen.