Wenn „Dr. Google“ Sprechstunde hält, erscheinen Symptom-Checker unterschiedlicher Anbieter weit oben in der Trefferliste. DocCheck hat einige der beliebtesten Tools mit zwei Fachmedizinern analysiert – die Ergebnisse lassen zu wünschen übrig.
Deutschlands Patienten gehen online: Einer repräsentativen Umfrage mit mehr als 1.000 Bürgern zufolge haben sich 55 Prozent aller Männer und 62 Prozent aller Frauen innerhalb von zwölf Monaten zumindest einmal im Web über Gesundheitsthemen informiert. Suchmaschinen stehen mit durchschnittlich 76 Prozent aller Nennungen an erster Stelle. Zu den Top-Treffern zählen neben Wikipedia-Artikeln vor allem „Symptom-Checker“ unterschiedlicher Anbieter.
Mit Online-Tools versuchen unterschiedliche Anbieter, Diagnosen elektronisch abzubilden. Geben Patienten ihre Beschwerden ein, erhalten sie theoretisch ihr Krankheitsbild. Ateev Mehrotra vom Department of Health Care Policy der Harvard Medical School in Boston hatte seine Zweifel. Zusammen mit Kollegen analysierte er 23 englischsprachige Symptom-Checker – und fand etliche Defizite. Die aus medizinischer Sicht wahrscheinlichste Diagnose stand nur bei 34 Prozent aller Stichproben an erster Stelle und rangierte bei 58 Prozent unter den Top-20-Treffern. Schlechter sah es bei Handlungsempfehlungen aus. Während Notfälle noch recht zuverlässig erkannt wurden (80 Prozent Trefferquote), schwächelten Symptom-Checker bei nicht akuten Krankheiten (55 Prozent Trefferquote) und Wehwehchen ohne Notwenigkeit, einen Arzt zu konsultieren (33 Prozent Trefferquote). Deutschsprachige Tools hat Mehrotra nicht unter die Lupe genommen. Ein Fall für DocCheck: Die Ärzte Dr. med. Sven Jungmann und Dr. med. Martin Lorenz prüften wichtige Online-Tools auf Herz und Nieren.
Sven Jungmann testete das Tool von Netdoktor mit Brustschmerzen im Rahmen einer Lungenarterienembolie. Nach weiteren Angaben zur Eingrenzung erhielt er Lungenembolie oder Pneumothorax als Resultate. „Allerdings hätten hier eigentlich noch weitere Fragen erscheinen müssen, wie zum Beispiel nach Zeichen einer Thrombose (Beinschwellung auf einer Seite) oder Risikofaktoren (Blutgerinnungsstörungen, aktive Krebserkrankung, Bettlägerigkeit), wie sie im Rahmen des Wells-Score für die Verdachtsdiagnose einer Lungenarterienembolie etabliert sind“, kommentiert der Kollege. „Sträflich ist, dass ein Herzinfarkt nicht als Differentialdiagnose genannt wird. Gut ist, dass hier sofort die Aufforderung erscheint, den Notarzt zu kontaktieren. Das ist in der vorgegebenen Konstellation genau richtig.“ Die zweite Analyse von Jungmann geht von Blut im Stuhl im Rahmen eines Kolonkarzinoms aus. Über weitere Schritte gelangt er zu Dickdarmkrebs, Morbus Crohn oder zu einer exokrinen Pankreasinsuffizienz. Jungmann: „Das System stellte viele sinnvolle Fragen, einige wurden jedoch weggelassen.“ Nachtschweiß stand nicht zur Auswahl, obwohl dieses Symptom zusammen mit Fieber und Gewichtsverlust zur klassischen B-Symptomatik von Krebserkrankungen gehört. Bei Gewichtsverlust fehlte als Eingrenzung, ob es Lebensstil-Veränderungen wie Diäten gab. „Eine Pankreasinsuffizienz als Differentialdiagnose finde ich weit hergeholt“, kritisiert Jungmann. „Diese würde sich eher mit fettigen statt mit blutigen Stühlen manifestieren.“ Andere mögliche Differentialdiagnosen fehlten. Martin Lorenz überprüfte gleich vier Krankheitsbilder. Ein männlicher Jugendlicher hat Symptome, die auf eine Hodentorsion hindeuten. Hinzu kommen eine Frau mit Cholezystitis / Chole(docho)lithiasis, ein Mann mit peripherer arterieller Verschlusskrankheit (pAVK) und ein männliches Kind mit Pylorusstenose. „Die Erkrankungen sind unterschiedlich häufig und unterschiedlich dringlich. Eingegeben habe ich die für das jeweilige Krankheitsbild typischen Symptome“, so Lorenz. Nach mehreren ergänzenden Abfragen kam er zu folgenden Ergebnissen:
Weiter geht es mit dem Symptom-Checker von Onmeda. Brustschmerzen führten zu einer äußerst umfangreichen Liste möglicher Krankheiten. „Alles ist richtig, aber es handelt sich um viel zu viel Information“, kritisiert Sven Jungmann. Das Portal ist „eher nützlich für Medizinstudierende zum Lernen als für Patienten, die wissen wollen, ob sie jetzt einen Arzt aufsuchen sollten und ob sie den Notdienst kontaktieren müssen“. Wollen Patienten mehr zu Blut im Stuhl erfahren, erhalten sie ähnlich lange Listen. Jungmanns Fazit: „Das System stellt keine weiteren Fragen zur Eingrenzung der Beschwerden. Stattdessen kommt ein zwar gut redigiertes, aber trotzdem zu unspezifisches und nicht personalisiertes Informationsangebot, das nach meiner Erfahrung die Patienten oft verwirrt und Ärzte oft frustriert, wenn Patienten mit unsachlichen Hypothesen aufwarten.“ Martin Lorenz teilt diese Meinung: „Während ich Netdoktor noch eine Zwei minus gegeben hätte, ist für mich Onmeda eine Fünf.“ Lorenz weiter: „Überspitzt ausgedrückt: Bis ich alle drei bis vier Seiten mit zig Differentialdiagnosen gelesen habe, bin ich unter Umständen schon tot.“ Sein Fazit: „Für akut Ratsuchende indiskutabel. Für Laien mit grundsätzlichem Interesse an Medizin interessant.“
Beide Kollegen kommen auch beim Krankheiten-Portal zu vernichtenden Resultaten. Abgeschlagenheit, Atemnot, Brustschmerzen, Herzrasen und Kurzatmigkeit führten online zu Bronchitis, Leukämie, Bluthochdruck, Schlafapnoe, Lungenentzündung, AIDS, Asthma bronchiale und zu Schilddrüsenüberfunktion (laut Website „gut möglich“). Sven Jungmann: „Sehr schlecht! Weder Herzinfarkt noch Lungenembolie werden vorgeschlagen. Dafür werden einige unwahrscheinliche Ursachen gelistet, die hier eigentlich erst an letzter Instanz genannt werden sollten.“ Auch bei Blut im Stuhl und Abgeschlagenheit sah die Sache nicht besser aus. „Eine Amöbenruhr als einziges ziemlich wahrscheinliches Krankheitsbild anzubieten, ist absurd. Das macht eigentlich nur Sinn, wenn vorher eine Reise in ein entsprechendes Endemiegebiet stattgefunden hat. Danach wurde aber nicht gefragt“, resümiert Jungmann. Multiple Sklerose, Migräne, Masern, Nasennebenhöhlenentzündung, Schilddrüsenunterfunktion, Wundstarrkrampf, Schilddrüsenüberfunktion, Windpocken, Bronchitis, Lungenentzündung, Leukämie, Schlafapnoe hätten auf der „gut möglich“-Liste nichts zu suchen. Und auch AIDS sei an dieser Stelle weit hergeholt. Martin Lorenz greift noch einen weiteren Aspekt auf: „Beim Symptomcheck der Körperregionen müssen mindestens zwei Symptome angeklickt werden, sonst kommt keine Antwort.“ Die von ihm untersuchten Krankheitsbilder stehen oft nur mit einem einzigen Symptom in Verbindung. Manche Beschwerden wie Erbrechen oder Hodenschmerz fehlen. „Man kriegt also entweder keine Antwort oder aber auch wieder eine Liste zwischen banal und Krebs.“ Sein Fazit: „Eine glatte Fünf.“
Mit ganz ähnlichen Problemen hat das Portal Lifeline zu kämpfen. Bei typischen Symptomen einer Lungenembolie beziehungsweise eines Kolonkarzinoms erhalten Laien ellenlange Listen. „Die genannten Ursachen sind alle richtig und sinnvoll. Allerdings würde ich mir wünschen, dass die Liste die Differentialdiagnosen besser triagiert“, so Jungmann. Seiner Analyse zufolge fehlen einige Krankheiten. Diese findet man, wenn „Brustschmerz“ als Differentialdiagnose angeklickt wird. Besonders absurd: Lifeline zufolge sind Brustschmerzen eine Ursache für Brustschmerzen. Bleibt als Resümee: „Ich finde gut, dass man mit einem Klick auf eine Differentialdiagnose zu weiteren, ausgiebigen Informationen gelangt. Die Information ist aber zu weitläufig und macht es schwierig für den Laien, seine persönliche Situation richtig einzuschätzen.“ Patienten würden nur verunsichert, und Ärzten würde später die Arbeit erschwert. Dieser Einschätzung schließt sich Martin Lorenz an: „Lifeline ist ein Desaster. Man kann zwar zwischen männlich und weiblich differenzieren, aber bei Symptomeingabe kommt wieder eine endlos lange Liste an Diagnosemöglichkeiten, die nicht im Geringsten zum Ziel führt.“ Entsprechende Zusammenstellungen werden nicht nach Prioritäten geordnet, sondern alphabetisch. Auf „Hodentorsion“ kommt man nicht, weil Hodenschmerzen fehlen. Lorenz: „Das ist bestenfalls eine Fünf minus.“
Zuletzt untersuchten beide Experten noch das Online-Tool „Symptome“ der Techniker Krankenkasse (TK). Sven Jungmann: „Man kommt schnell zu dem Leitsymptom. Es folgt dann eine Liste mit den wichtigsten Differentialdiagnosen, die um ein paar Stichpunkte ergänzt werden, damit der Informationssuchende rasch einordnen kann, welche Diagnose für ihn am wahrscheinlichsten ist.“ Bei den von Sven Jungmann untersuchten Symptomen einer Lungenembolie beziehungsweise eines Kolonkarzinoms sind die Listen mit Differentialdiagnosen nicht vollständig. Lorenz zufolge ist das Tool „kaum besser als die anderen drei vorigen Kandidaten“. Er stört sich ebenfalls an der „langen Latte mit Symptomen“, mit denen sich Laien allein gelassen fühlen. Ein Beispiel: „Erstmal kommen bei ‚Erbrechen‘ alle möglichen ernsten Tumoren, man muss sich erschießen, denn die ‚Pylorusstenose‘ wird überhaupt nicht aufgeführt“, so Lorenz. Sein Fazit: „Eigentlich ist das genauso eine Fünf minus. Das ist fast schon gemeingefährlich.“
In den Staaten sieht die Sache keineswegs besser aus, etwa bei WebMD. „Es wird einfach mal alles aufgelistet, was in Frage käme und am Ende hat man eine riesige Liste, die einem auch wieder nicht weiterhilft“, moniert Jungmann. Zwar warnen Popup-Fenster bei Symptomen wie Brustschmerzen User, sofort ihren Arzt aufzusuchen. Zur Abklärung spezifischer Gesundheitssymptome ist dieses Tool ebenfalls ungeeignet. Etwas besser schneiden Symptomchecker der Mayo-Klinik im Schnelltest ab. Hier erscheinen die wichtigsten Differenzialdiagnosen, insbesondere gefährliche, die einen sofortigen Arztbesuch notwendig machen. Patienten erhalten auch Informationen, was sie in der Klinik erwartet, welche Fragen der Arzt stellen wird und wie sie sich am besten auf ihren Krankenhausbesuch vorbereiten – eine gelungene Synergie zwischen ärztlicher und technischer Expertise. In diese Richtung sollten sich viele Tools entwickeln.