Letztes Jahr kamen 36 Pharmaka mit neuen Wirkstoffen auf den Markt. Weitere Neuzulassungen aus den USA werden schon bald in Europa erhältlich sein. Doch nicht alles, was in Studien glänzt, ist tatsächlich Gold.
Frohe Botschaften vom Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa): Gleich 36 aller Medikamente des Jahres 2015 basieren auf neuen Wirkstoffen – ein Rekordwert, gemessen am Durchschnitt der letzten zehn Jahre von 28 Präparaten. An erster Stelle stehen 13 Medikamente zur Therapie unterschiedlicher Krebserkrankungen. Jeweils drei haben das Multiple Myelom und das nicht-kleinzellige Bronchialkarzinom zum Ziel. Zwei weitere kommen gegen fortgeschrittene maligne Melanome zum Einsatz. Wissenschaftler haben darüber hinaus Antibiotika gegen multiresistente Keime und Präparate zur Therapie von Hepatitis C gefunden.
Bei besagten Leberinfektionen stehen gleich drei neue Wirkstoffe zur Verfügung: Dasabuvir, Ombitasvir und Paritaprevir. Ärzten gelingt es mit direkt antiviral wirksamen Medikamenten (DAA), ihre Ziele schneller den je zu erreichen. Interferon-basierte Therapien waren in der Regel erst nach 48 bis 72 Wochen abgeschlossen. Unter DAA könnten sechs bis acht Wochen ausrechen, berichten Forscher. Der generelle Erfolg steht außer Frage. Kürzlich veröffentlichte Daten einer Phase 3-Studie zeigen, dass Sofosbuvir zusammen mit dem noch nicht zugelassenen Velpatasvir Hepatitis C innerhalb von zwölf Wochen heilt – unabhängig vom Genotyp. Demgegenüber stehen oft zitierte „Mondpreise“. Als Reaktion fordert Dr. Christoph Straub, Vorstandschef bei der Barmer GEK, besonders versorgungsrelevante Arzneimittel direkt beim Markteintritt zu bewerten.
Auch bei Immuntherapien gegen Krebs stehen Kosten-Nutzen-Aspekte im Fokus. Nivolumab und Pembrolizumab sind als Checkpoint-Inhibitoren neu im Portfolio, um Bremsen des Immunsystems zu lösen. Sie haben PD1 (Programmed Cell Death 1 Protein)-Rezeptoren auf Pro-B-Zellen oder T-Zellen zum Ziel. Beide Moleküle wurden anfangs gegen maligne Melanome zugelassen. Ipilimumab plus Nivolumab, also CTLA4- und PD1-Hemmer, verbessern den Effekt. Auch beim nicht-kleinzelligen Plattenepithelkarzinom profitieren Patienten von Nivolumab. Einer Phase-3-Studie zufolge hat sich die Überlebenszeit um 3,2 Monate verlängert, verglichen mit Docetaxel. Schön und gut – nur liegt der Preis einer Infusion mit PD1-Inhibitoren bei 13.000 bis 15.000 Euro. Wie lange die Präparate verabreicht werden müssen, weiß derzeit niemand.
Von spezifischen Hemmstoffen profitieren auch Patienten mit hohen Cholesterinwerten. Alirocumab und Evolocumab, zwei PCSK9-Inhibitoren, erhöhen die Zahl an LDL-Rezeptoren auf Leberzellen, indem sie deren Abbau durch das Enzym Proprotein-Konvertase Subtilisin/Kexin Typ 9 (PCSK9) hemmen. In Phase-3-Studien des ODYSSEY-Programms fanden Wissenschaftler beachtliche Effekte hinsichtlich der Lipidsenkung. Ob sich Herzinfarkt- oder Schlaganfall-Risiken langfristig tatsächlich verringern, ist anders als bei Statinen aber nicht belegt. PCSK9-Hemmer bleiben deshalb Zweitlinienmedikamente, falls Ärzte den angestrebten Zielwert mit Statinen nicht erreichen oder falls die Wirkstoffe kontraindiziert sind.
Noch ein weiteres Highlight aus dem Bereich kardiovaskulärer Erkrankungen: In Kürze wird Sacubitril bei uns zugelassen. Der Neprilysin-Inhibitor ist in den USA bereits als Kombination mit dem Angiotensin-Blocker Valsartan erhältlich – und sorgt für reichlich Gesprächsstoff. Wissenschaftler haben 8.442 Patienten mit Herzinsuffizienz in eine randomisierte Studie aufgenommen. Unter Sacubitril verlängerte sich ihre Lebenszeit um bis zu zwei Jahre, gemessen an Enalapril. Diesem unbestrittenen Mehrwert stehen nicht nur hohe Therapiekosten gegenüber. Der Wirkstoff könnte in Stoffwechselprozesse von Beta-Amyloiden eingreifen – und zu höheren Alzheimer-Risiken führen. Im Auge könnte ein ähnlicher Mechanismus die Entwicklung altersbedingten Makuladegenerationen (AMD) forcieren. Amerikanische Zulassungsbehörden haben reagiert und dem Hersteller eine Post-Marketing-Studie auferlegt. Vor 2022 liegen aber keine Daten vor. Apotheker und Ärzte fordern deshalb, elektronische Krankenakten anonymisiert auszuwerten, um Risiken schneller zu erkennen.
Während Sacubitril, Alirocumab oder Evolocumab auf große Patientengruppen abzielen, haben zwölf von 36 Präparaten des Jahres 2015 einen Orphan-Drug-Status. Dabei handelt es sich nicht nur um seltene Leiden wie die Cholesterinester-Speicherkrankheit, die Hypophosphatasie oder Morbus Gaucher. Verschiedene Krebserkrankungen kommen mit hinzu. Ärzte verschreiben Lenvatinib bei follikulärem und papillärem Schilddrüsenkarzinomen, Olaparib bei Ovarialkarzinom und Panobinostat beim Multiplen Myelom. Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ), kritisiert, Hersteller hätten die Entwicklung von Orphan Drugs als neues und sehr lukratives Geschäftsfeld erkannt. In der Onkologie würden anhand von Biomarkern kleine Patientenuntergruppen definiert und häufige Tumorleiden zu seltenen Erkrankungen gemacht. Ludwig zufolge hätten Orphan Drugs mittlerweile einen Anteil von etwa 15 Prozent am weltweiten Umsatz von Pharmaka. Ob der Gesetzgeber nachbessert, ist mehr als fraglich.