Eine Klinikwelt, die immer mehr auf computergesteuerte Medizintechnik vertraut. Trotzdem gibt es Beschwerden, die sich fast jeder maschinellen Analyse entziehen. Verschiedene Strategien versuchen, Schmerzen messbar zu machen – mit erstaunlich guten Ergebnissen.
Wenn es um Schmerzmedikation geht, richten sich Arzt und Pfleger immer noch nach den subjektiven Angaben des Patienten - zuweilen mit einem standardisierten Fragebogen. Wenn es um Recht und Gerechtigkeit vor Gericht geht, kommt hier und da auch einmal die funktionelle Magnetresonanz zum Einsatz (DocCheck berichtete). Diese ist bisher aber immer noch zu wenig mit Studien abgesichert und für den Einsatz am Krankenbett zu aufwändig [Paywall].
Und so hängt es immer ein wenig von der Umgebung und vom behandelnden Arzt ab, ob der Patient bei abgedunkeltem Bewusstsein eine Überdosis Schmerzmittel bekommt, die Zähne bei einem Zuwenig zusammenbeißen muss, oder ob der Verantwortliche die Angaben des Patienten richtig einschätzen kann. Besonders bei kleineren Kindern oder Erwachsenen mit Problemen bei der schriftlichen und mündlichen Kommunikation wird es schwierig. In Leitlinien gibt es zwar Hinweise auf mögliche Parameter, die mit dem Schmerz-Ausmaß zusammenhängen, aber wer nach Studien für die Evidenz dieser Hinweise sucht, hat meist nur sehr begrenzten Erfolg. Schwitzen und die dadurch verminderte Leitfähigkeit der Haut können auf Schmerzen hindeuten, aber als zuverlässiger Marker taugt es verschiedenen Untersuchungen nach [Paywall] nicht. Zu sehr hängt der Wert von der Hautbeschaffenheit, der Umgebungsfeuchtigkeit und -temperatur ab. Ähnlich sieht es mit anderen Veränderungen im autonomen Nervensystem aus. Der Puls und die Herzfrequenz-Variabilität hängen unter anderem auch von pharmakologischen Einflüssen ab, genauso wie vom Alter, Geschlecht und der Komorbidität. So wie die Messung der Pupillenerweiterung können sie als Zeichen für Schmerzen dienen, zur quantitativen Messung sind sie aber nicht geeignet.
Wie bei bildgebenden Methoden ist jedoch die spezifische Ableitung von Schmerzsignalen über das EEG inzwischen relativ weit fortgeschritten. Im Jahr 2011 veröffentlichten Leslie Prichep und ihre Kollegen vom Medical College der New York University eine Machbarkeitsstudie zur Schmerzbestimmung via Gehirnstrommessung bei chronischen Schmerzpatienten. Mathematische Berechnungen führten die Wissenschaftler zu den Regionen auf der Schädeloberfläche mit besonders starker Aussagekraft. Die entsprechenden EEG-Daten bestätigten Bilder der funktionellen Kernspintomografie und deuten auf die verschiedenen Zentren im Gehirn hin, die an der Schmerzempfindung maßgeblich beteiligt sind: Thalamus, somatosensorischer Kortex, anteriore und und posteriore Insula, Teile des präfrontalen Kortex und Cingulum. Unter Schmerzlinderung geht bei der Ableitung an diesen Regionen auch die Signalstärke zurück. Das Wissen der Forschergruppe aus New York macht sich inzwischen auch ein Start-up-Unternehmen zunutze. „PainQx“ möchte mit der EEG-Algorithmus-Lizenz der New Yorker Gehirnforscher schon in wenigen Jahren eine kostengünstige Schmerzmessung anbieten. Zielgruppe sind dabei nicht nur Arztpraxen und Kliniken, sondern auch Pflege- und Seniorenheime, in denen sich die Bewohner nicht immer richtig über ihren Zustand verständlich machen können. Aber auch die kostengünstigere Schmerzdokumentation bei klinischen Studien soll Pharmafirmen für die Entwicklung von „PainQx“ begeistern. Ein mobiles Gerät nimmt die Daten auf und zeigt das Endergebnis an, die Auswertung erfolgt zentral in einem Cloud-basierten Rechenzentrum. Auch eine Veröffentlichung von 2014 [Paywall] aus Indien bekräftigt die Hoffnungen der jungen Firma aus Philadelphia. Sie sieht in der EEG-Analyse bestimmter Signale eine gute Möglichkeit, die Narkosetiefe in der Anästhesie zu kontrollieren und einzustellen. Immer noch gibt es bei der Ableitung peripherer Gehirnströme Probleme, weil die induzierten Potentiale in einiger Entfernung vom Ort des Geschehens gemessen werden. Äußere Einflüsse können dabei leicht die Genauigkeit der aufgenommenen Signale beeinflussen. Im Gegensatz zur EEG-Analyse messen die Sensoren bei der Magnet-Enzephalographie Magnetfelder, die durch intrazelluläre dendritische Aktivität entstehen und können daher noch direktere Ableitungen erlauben. Diese Methode ist jedoch technisch sehr aufwändig und daher noch nicht im Klinikalltag angekommen.
Mit einer weiteren vielversprechenden, jedoch völlig andersartigen Methode versuchen Wissenschaftler aus San Diego bei Kindern den Schmerz messbar zu machen. Sie stützen sich dabei auf ein automatisiertes System, das Emotionen aus der Gesichtsmimik lesen kann, dem „Facial Action Coding System“. 46 verschiedene anatomische Bewegungsmuster geben dabei Hinweise, ob der Betreffende verärgert, euphorisch oder nachdenklich ist. Die Software, angeschlossen an eine Videokamera, kann aus Senken der Brauen, Runzeln der Stirn, Heben der Wangen oder einem verkniffenen Mund Schlüsse auf mögliche Schmerzen ziehen. Das Programm ist inzwischen schnell genug, den augenblicklichen Gemütszustand sofort anzuzeigen und liefert dabei erstaunlich genaue Ergebnisse. Der Rechner entlarvt auch vorgetäuschte Laune besser als menschliche Mimik-Analysten. In der Fachzeitschrift „Pediatrics“ publizierten Jeannie Huang und ihre Kollegen eine Studie mit 50 Kindern im Alter zwischen fünf und achtzehn Jahren nach einer laparoskopischen Blinddarm-OP. Eine Kamera erfasste die Gesichter der Patienten bei verschiedenen Visiten kurz nach dem Eingriff und einem Kontrolltermin drei Wochen danach. Sie nahm dabei die andauernden OP-Schmerzen als auch einen unmittelbaren Schmerz beim Druck auf die Wunde auf. Beim Vergleich mit der subjektiven Skala des jugendlichen Patienten erzielte die Videotechnik erstaunlich gute Ergebnisse sowohl bei akuten als auch bei fortdauernden Schmerzen. Einschätzungen des Pflegepersonals und der Eltern - sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht - dienten ebenfalls zur Beurteilung der optisch-technischen Schmerzmessung. Während Pfleger anders als Eltern gut einschätzen konnten, ob die Patienten bei der Visite überhaupt an Schmerzen litten, lagen letztere besser, wenn es darum ging, das Ausmaß der Schmerzen zu beurteilen. Medizinisches Personal unterschätzte häufig die Pein ihrer anvertrauten Patienten. Die Computer-Bildanalyse war mit den besten Ergebnissen menschlicher Beobachter zumindest gleichwertig.
In Deutschland leiden 10 bis 20 Millionen Menschen [Paywall] unter chronischen Schmerzen. Bei rund fünf Millionen Menschen mit einer Schmerzkrankheit hat sich das Leiden verselbständigt und ist nicht mehr abhängig von seinem ursprünglichen Auslöser. Im Schnitt dauert es zehn Jahre, bis sie Spezialisten angemessen behandeln. Umso wichtiger wäre es, sowohl bei akuten als auch bei chronischen Schmerzen ein geeignetes Diagnoseinstrument an der Hand zu haben, das Ärzte und Pfleger kostengünstig auch in der Routine einsetzen können. Eine große Bedeutung kommt ihm vor allem dann zu, wenn der Patient nicht in der Lage ist, seine Umgebung verständlich über sein Befinden zu informieren. Es gibt inzwischen etliche gute Ansätze, denen jedoch noch allen der Praxistest in Form großer Studien bevorsteht. Niemand sollte in unserer heutigen Zeit mehr lange mit starken unbehandelten Schmerzen im Krankenbett liegen müssen. Genauso wie bei Behandlungsmethoden sollte sich auch bei der Diagnose bald wieder etwas bewegen.