Unser Wille ist freier als bislang angenommen. Aktivierte Hirnwellen sind nicht unkontrollierbar, sondern man kann aktiv in den Entscheidungsablauf eingreifen. Prozesse im Gehirn lassen sich so wieder stoppen, wenn sie einmal angestoßen sind. Jedoch nur bis zu einem gewissen Punkt.
Spätestens seit den 1980er Jahren diskutieren Hirnforscher, Psychologen, Philosophen und Öffentlichkeit über die Bewusstheit und Vorbestimmtheit menschlicher Entscheidungen. Seinerzeit studierte der amerikanische Forscher Benjamin Libet Hirnprozesse von Probanden, während sie einfache freie Entscheidungen fällten. Er zeigte, dass das Gehirn Entscheidungen bereits unbewusst vorwegnahm. Noch bevor sich eine Person willentlich entschieden hatte, war ein sogenanntes „Bereitschaftspotenzial“ in ihren elektrischen Hirnwellen zu erkennen. Wie aber kann es sein, dass das Gehirn vorab weiß, wie sich ein Proband entscheiden wird, obwohl es diesem selbst noch gar nicht bewusst ist? Die Existenz der vorbereitenden Hirnwellen galt bis dato oft als Beleg für den „Determinismus“. Demnach ist der freie Wille eine Illusion – unsere Entscheidungen werden durch unbewusste Hirnmechanismen erzeugt und nicht durch unser „bewusstes Ich“ gesteuert. Die Forscher um Prof. Dr. John-Dylan Haynes vom Bernstein Center for Computational Neuroscience der Charité haben die Thematik neu aufgerollt. Mit aktuellen Messtechniken sind sie der Frage nachgegangen, ob Menschen geplante Bewegungsabläufe stoppen können, nachdem das Bereitschaftspotential für eine Handlung ausgelöst worden ist.
„Unser Ziel war herauszufinden, ob mit dem Auftreten der frühen Hirnwellen eine Entscheidung automatisch und unkontrollierbar erfolgt, oder ob sich der Proband noch umentscheiden, also ein ‚Veto‘ ausüben kann“, erklärt Haynes. Dazu haben die Wissenschaftler Probanden in ein „Hirnduell“ mit einem Computer geschickt und während des Spiels die Hirnwellen per Elektroenzephalographie abgeleitet. Ein speziell „trainierter“ Computer versuchte anhand der Hirnwellen vorherzusagen, wann sich ein Proband aufgrund von Anreizen bewegen würde und sollte den Probanden überlisten: Sobald die Hirnwellen Anzeichen dafür gaben, dass sich der Proband in Kürze bewegen würde, wurde das Spiel zugunsten des Computers manipuliert.
Wenn es Probanden möglich ist, aus der Falle der Vorhersagbarkeit ihrer eigenen Hirnprozesse zu entkommen, wäre dies ein Anzeichen dafür, dass sie über ihre Handlungen noch weit länger Kontrolle haben, als bisher angenommen. Genau das konnten die Forscher nun aufzeigen: „Die Probanden sind den frühen Hirnwellen nicht unkontrollierbar unterworfen. Sie waren dazu in der Lage, aktiv in den Ablauf der Entscheidung einzugreifen und eine Bewegung abzubrechen“, sagt Haynes. „Dies bedeutet, dass die Freiheit menschlicher Willensentscheidungen wesentlich weniger eingeschränkt ist, als bisher gedacht. Dennoch gibt es einen Punkt im zeitlichen Ablauf von Entscheidungsprozessen, ab dem eine Umkehr nicht mehr möglich ist, den ‚Point of no Return‘.“ In weiteren Studien werden die Berliner Wissenschaftler komplexere Entscheidungsabläufe untersuchen. Originalpublikation: Point of no return in vetoing self-initiated movements Matthias Schultze-Kraft et al.; PNAS, doi: 10.1073/pnas.1513569112; 2015