Ein Patient bittet um Medikamente ohne Zuzahlung, ein anderer buddelt die Topfblumen im Wartezimmer aus. Ich habe meine eigene Theorie, wer von beiden wirklich nicht genug Geld in der Tasche hat.
Das Konzept sollte eigentlich hinlänglich bekannt sein: Wenn ich etwas haben möchte, muss ich es mir kaufen. Also gehe ich in den Supermarkt oder das Shoppingcenter und kaufe, was ich eben so brauche. Aber nicht jeder verfügt über das nötige Geld dafür. Vielleicht nicht mal für seine Gesundheit.
In der Sprechstunde habe ich da schon viel Leid erlebt. „Frau Doktor, können Sie nach einem Medikament ohne Zuzahlung suchen?“, fragt Frau Müller, weil 5 Euro Zuzahlung auf ein Arzneimittel bei der Dame mit kleiner Rente nicht vorhanden sind. Also schaue ich nach einem passenden Produkt in der Liste oder suche in unseren Musterpackungen nach dem entsprechenden Medikament.
Ein anderer Patient hat eine Bronchitis und ich schreibe ihm freiverkäufliche Medikamente auf. „Verschreiben Sie mir doch ein Antibiotikum, das zahlt die Kasse wenigstens“, bittet er mich flehentlich und ist verzweifelt, als ich das ablehne. Weil ein Antibiotikum an dieser Stelle nicht geholfen hätte. Ich rate zu Bettruhe, Tee und Inhalationen und er fühlt sich verschaukelt. Wütend und verzweifelt verlässt der Mann die Praxis.
Dabei würde ich nie jemanden wegen seines schmalen Geldbeutels verhöhnen. Ich bin selbst ohne viel Geld, dafür aber mit vielen Jobs aufgewachsen und habe ein genaues Bild davon, wie es den betroffenen Menschen geht. Einer meiner längsten Jobs war in einem Supermarkt. Als Sechzehnjährige verkaufte ich dort in einem schicken rot-weißen Leibchen Wurst und Käse, sortierte Produkte und saß an der Kasse. Vier Jahre lang, dreimal in der Woche.
Wir kannten unsere Kunden (Anm.: Ich wollte eben „Patienten“ schreiben) und wussten auch, wer Geld hat und wer nicht. Eine Dame, die regelmäßig bei uns einkaufte, hatte zum Beispiel keins. Erst später bekam ich mit, dass sie wohl gelegentlich, aus der Not heraus, eine Packung Hackfleisch oder eine Dose Gemüse in ihrer Tasche verschwinden ließ. Einfach, weil sie es sich nicht hätte leisten können.
Der Chef schaute mit Absicht weg. Als die Dame dann aber irgendwann eine Flasche Wodka entwendete, konnte er die Augen nicht mehr verschließen. Hätte sie so weitergemacht wie bisher, hätte er sie gewähren lassen, schätze ich. Weil ihre Not bekannt war.
Und auch in der Praxis kennen wir unsere Patienten und wissen, wer welche Sorgen und Nöte hat. Wer gelegentlich Gegenstände aus der Praxis mitnimmt, wissen wir allerdings nicht. Es gibt aber Vermutungen.
Es ist ja auch wirklich praktisch: Da steht eine zusätzliche Klorolle im WC, die flüssige Seife duftet so schön und der Artikel aus der Neuen Post ist so interessant. Wenn nur Seiten aus Zeitschriften gerissen werden, bin ich fast schon erleichtert. Denn manchmal werden tatsächlich Topfblumen aus dem Blumenarrangement im Wartezimmer ausgebuddelt.
Eine Klorolle passt in eine handelsübliche Damenhandtasche von der Größe eines Umzugskartons. Ein Seifenspender auch. Aber wo packt man, bitte, eine mit Erde bedeckte Topfblume hin? Und wer macht sowas überhaupt?
Meist sind es nicht diejenigen, die nichts haben. Weil sie wissen, wie es ist, noch weniger zu besitzen. Oft sind die Mittellosen die Personen, die an der Anmeldung fragen, ob sie sich ein Rezept aus der Frau im Spiegel ausschneiden dürfen oder die Zeitschrift kopieren können.
Ich kann nur spekulieren: Wer Topfblumen ausbuddelt oder andere Dekorationen mitnimmt, denkt vielleicht, die Praxismitarbeiter hätten genug („Die Ärzte haben’s ja!“) und niemand müsse dafür bezahlen. Vielleicht spielt Missgunst eine Rolle, denn es kann kaum die Topfblume sein, die man unbedingt zum Leben braucht.
Letztlich kenne ich die Gründe dafür nicht. Aber Klorollen im WC anzukleben ist auch keine Lösung.
Bildquelle: sarahvandenbroeck, Flickr