Über den Sinn und Unsinn der GU, also der Gesundheitsuntersuchung, wird immer wieder gestritten. Interessanterweise erwische ich mich bei dieser Diskussion mal auf der Seite der Befürworter, mal auf der Seite der Gegner.
Es gibt Dinge, die kehren regelmäßig wieder: Ferien, Feiertage und Diskussionen über den Sinn und Unsinn der Gesundheitsuntersuchung (GU, vormals „Checkup35“). In den Medien, bei uns in der Praxis und kürzlich auch mal wieder in einem Fachjournal (in diesem Fall JAMA) ist man sich uneins. Auch ich selbst bin manchmal für die GU und manchmal dagegen. So einfach ist die Situation nämlich nicht.
Kurz etwas zum Hintergrund: In Deutschland gibt es wohl seit 1989 eine Gesundheitsuntersuchung, bei der es darum geht, Patienten ohne Beschwerden alle zwei (seit 2019 alle drei) Jahre zu untersuchen, um frühzeitig mögliche Schädigungen wie kardiovaskuläre Erkrankungen oder Nierenerkrankungen zu erkennen. In den USA ist diese Untersuchung noch deutlich älter – aber genauso umstritten. Doch sehen wir uns erstmal genauer an, was die GU eigentlich ist.
Die Laborwerte, die es bei der GU zu ermitteln gilt, sind relativ überschaubar: Bis vor kurzem waren es nur Nüchtern-Blutzucker und Cholesterin, jetzt sind die Blutfettwerte noch um die Triglyceride, HDL und LDL erweitert worden. Dazu kommt eine Urinprobe. Im Gespräch sollen Beschwerden erfragt und Risikofaktoren identifiziert werden auf Basis der Eigen- und Familienanamnese. Zudem erfolgt „eine vollständige körperliche Untersuchung: Dabei werden Herz, Lunge, Kopf, Hals, Bauch, Wirbelsäule, Bewegungsapparat, Nervensystem und Sinnesorgane überprüft, um abweichende oder krankhafte Befunde feststellen zu können.“
Das Problem ist, dass niemand so genau weiß, was diese ganze Gesundheitsuntersuchung denn wirklich „bringt“. Inwiefern kann ich mit dieser Form der Untersuchung wirklich Erkrankungen vorbeugen bzw. diese früh erkennen? Diese Frage ist durchaus relevant – zwar nimmt nur ungefähr jeder Vierte, der dazu berechtigt wäre, die GU wirklich in Anspruch (Männer 23,1 % , Frauen 25,9 %). Trotzdem reden wir von 32,28 Euro pro Gesundheitsuntersuchung (extrabudgetär!), was in der Masse der insgesamt in Deutschland durchgeführten GUs durchaus relevant ist. Also sollte man als Arzt schon schauen, dass der Aufwand sich auch lohnt. Das konnte leider aber in Studien bisher nicht gezeigt werden. Ich finde das auch durchaus verständlich: Die Leute, die sich gezielt um eine Gesundheitsuntersuchung kümmern, sind wahrscheinlich eher Leute, die auch ansonsten eher auf ihre Gesundheit achten. Damit sinkt die Prävalenz von Erkrankungen und damit auch die Wahrscheinlichkeit, eine Erkrankung dann erst zu finden.
Das Hauptproblem der GU ist aber meines Erachtens nach ein anderes: Welche Erkrankungen soll ich als Arzt finden, deren Vorbeugung oder Früherkennung ja Ziel der GU ist? Gehen wir die einzelnen Aspekte der Gesundheitsuntersuchung doch mal unter dem Aspekt durch.
Mit dem Labor soll ich natürlich KHK-Risikopatienten und mögliche Diabetiker finden. Meiner Erfahrung nach klappt das mit dem Blutzucker auch sehr gut. Viele Patienten kennen „Zuckerkranke“ und leider kennen die meisten auch jemanden mit Folgeschäden durch einen nicht gut eingestellten Diabetes. Deswegen sind die Leute meistens hochmotiviert, wenn man sie auf zu hohe Zuckerwerte hinweist. Das führt allen Ernstes bei vielen dazu, dass ein ausführliches Gespräch den Lebensstil soweit ändern kann, dass der Blutzucker wieder sinkt.
Etwas schwierig finde ich die Kontrollen bei „Grenzwert-Zuckern“: Die Leitlinie der DDG sagt, dass wir dann einen OGTT (eine Art Zucker-Belastungstest) machen, aber ich habe das Gefühl, dass der auch nur begrenzt weiterhilft. Oft bleibt es bei „noch kein richtiger Diabetes, aber auch nicht ganz in Ordnung“. Manche sprechen dann von Prädiabetes. Das ist aber keine offizielle Diagnose und hilft mir auch therapeutisch nicht weiter. Eine medikamentöse Therapie ist nicht indiziert, sondern eher das immer wieder erneute Motivieren zu einem gesunden Lebensstil. Brauche ich für dieses Motivieren die Diagnose einer Krankheit? In Zeiten der DRGs muss ich das wahrscheinlich mit „ja“ beantworten, aber meiner Meinung ist das erstmal eine „Abrechnungsdiagnose“, keine wirkliche Erkrankung. Man sollte nicht eine Erkrankung mit einer Risikosituation verwechseln.
Beim Cholesterin finde ich das noch schwieriger: Als obere Grenze für das Cholesterin gilt in Deutschland 200 mg/dl. Laut einer Studie des RKI hat aber weniger als die Hälfte der deutschen Bevölkerung laut dieser Definition ein „normales“ Cholesterin. In der Studie (die aber 190 mg/dl als Grenze ansetzt) steht sogar „Die Gesamtprävalenz von Fettstoffwechselstörungen (Gesamtcholesterin ≥190 mg/dl oder ärztliche Diagnose einer Fettstoffwechselstörung) beträgt 64,5 % für Männer und 65,7 % für Frauen; davon haben jeweils mehr als die Hälfte der betroffenen Personen eine bislang unerkannte Dyslipidämie.“
Auch da gilt wieder: Natürlich ist die Hypercholesterinämie ein starker Risikofaktor, bei dem ich als Arzt überlegen muss, wie ich vor allem dem Patienten helfe, seinen Lebensstil zu ändern. Aber direkt den Rezeptblock zücken und ein Statin verschreiben? Das fällt mir sehr schwer. Bei Patienten mit niedrigem Risiko muss ich manchmal 100 Leute behandeln, um einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu verhindern. Das finde ich schon relativ viel. Vor allem, weil wir erstens gerade bei älteren Patienten das Problem der Polypharmazie haben (zu viele Medikamente mit zu vielen möglichen Wechselwirkungen) und zweitens auch die Statine keine Bonbons sind.
Bitte nicht falsch verstehen: Ich sehe den Wert der Statine in der Sekundärprävention nach Herzinfarkt oder Schlaganfall oder bei der Behandlung familiärer Fettstoffwechselstörungen. Aber sie erhöhen wohl auch das Risiko für einen Diabetes mellitus um ca. 10 %, was sicherlich auch beachtet werden sollte, auch wenn die absoluten Zahlen vielleicht gering erscheinen. Denn damit tausche ich eine Risikosituation (die Hypercholesterinämie) gegen eine Erkrankung (den Diabetes), die selbst Schaden verursachen kann. Seltene Nebenwirkungen der Statine wie die Rhabdomyolyse sind aufgrund ihrer Schwere sicherlich auch zu beachten, aber ich muss gestehen, dass ich noch nie eine gesehen habe. Und auch keiner der Ärzte, die ich kenne.
Was mache ich also dann mit den Laborwerten? Ich versuche, den Patienten mit dem ARRIBA-Rechner ihr Risiko für eine KHK zu zeigen. Den finde ich sehr anschaulich und man kann auch direkt den Effekt von Verhaltensänderungen wie Rauchstopp (vor allem im Vergleich mit der medikamentösen Therapie) zeigen.
Kommen wir nun zur körperlichen Untersuchung. Wir kombinieren die meistens mit dem Hautkrebsscreening und ggf. der Prostata-Abtastung, damit der Patient alles in einem erledigt hat. Was man so findet? Häufige Befunde sind Krampfadern, Senk-Spreizfüße, ggf. einen Fuß- oder Nagelpilz und ab und zu z.B. ein leichtes Herzgeräusch. Das sich aber in der Echokardiographie meist als nur leicht herausstellt. Wirklich ernsthafte Erkrankungen (abgesehen von eventuellen Hautbefunden im Rahmen des Hautkrebsscreenings) finden wir sehr selten. Und ein Befund wie Krampfadern oder Senk-Spreizfüße sind, sofern der Patient diesbezüglich beschwerdefrei ist, auch nicht unbedingt therapiebedürftig.
Ich bekomme vor allem einen umfassenderen Eindruck von dem Patienten. Gerade bei Patienten, die neu zu uns kommen oder länger nicht da waren, finde ich das sehr nützlich. Hier lohnt es sich, aufmerksam zu beobachten: Wie bewegt sich der Patient? Eher unsicher? Kann er sich zügig auf die Diagnoseliege legen oder ist das eher schwierig? Wie wirkt der Patient emotional? Durch den längeren Kontakt erzählen viele Patienten auch etwas mehr von sich und ihrer Situation, was ebenfalls zur Stärkung der Arzt-Patienten-Beziehung beiträgt. Wenn er von früheren Erkankungen erzählt oder ich ihn z.B. auf erhöhte Blutzuckerwerte oder das Rauchen anspreche – wie reagiert er? Auch das Ansprechen auf die berühmten „Lifestyle-Änderungen“ wie Rauchstopp, mehr Bewegung und Gewichtsreduktion braucht etwas Zeit und Ruhe.
All das geht leider in Zeiten der Akut-, oder besser gesagt „Akkord“-Versorgung vor allem in der Erkältungs-Saison leider oft unter. Bei der GU kann ich nochmal in Ruhe schauen, dass keine Themen untergehen – auch Themen wie Impfungen, die Koloskopie-Vorsorge, den Abgleich mit den Medikamenten (auch immer unter dem Aspekt „kann ich ggf. mal Medikation absetzen?“) und den emotionalen Kontakt ausbauen.
Was ich schon mehrfach erlebt habe: Ich hatte die Leute bei der Gesundheitsuntersuchung auf Warnsignale hingewiesen und später kamen die Patienten dann genau deswegen wieder („Sie hatten damals bei der Checkup-Untersuchung gesagt, dann solle ich sofort zu Ihnen kommen …“). Der intensivere Kontakt führt also meiner Erfahrung nach durchaus zu mehr Therapie-Adhärenz oder einfach zu mehr Verständis des Patienten für seine Erkrankungen.
Man muss die Ergebnisse, die man in der GU erhebt, kritisch beleuchten unter dem Aspekt „Ist es eine Krankheit, die dem Patienten Probleme macht oder massiv schadet?“ oder „Ist es nur eine Risikokonstellation, die für sich keine Erkrankung darstellt, aber eventuell auf Dauer schwierig werden könnte?“ Denn sonst ist es keine Gesundheitsuntersuchung, sondern eine Untersuchung, bei der ich den Patienten krank diagnostiziere, ohne wirklich zu helfen. Und das darf nicht sein.
Sieht man die GU aber als Stärkung der Arzt-Patienten-Beziehung, ist sie sehr wichtig. Es ist eine der letzten „Inseln“, wo ich mir mehr Zeit nehmen kann, um wirklich nochmal den Patienten mit (hoffentlich) allen Facetten zu sehen. Sowohl in der körperlichen Untersuchung als auch im Gespräch. Das ist vielleicht kein „harter Endpunkt“ in Studien – aber sowohl für den Patienten als auch für mich unheimlich wichtig.
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