Zu jeder Frühschicht versammelt sich der Tross, angeführt vom Oberarzt. Instinktiv und wie blind bewegt er sich dann durch die Klinik. Wie lange geht das gut?
Jede Frühschicht – natürlich außer am Wochenende — jede Frühschicht also, die uns vergönnt ist, beginnt mit der Versammlung der Truppe. Den fertigen Tross hört man dann wie ein umtriebiges Bienenvolk durch die Stockwerke wabern. Assistenten, Oberärzte, PJ-ler, Gäste, Förderer, Mägde und Knechte ... ach nein. Die nun nicht. Aber alle anderen schon.
Sie machen sich auf zum Rapport, zur Frühbesprechung, zur Schande oder zum Lob des Tages. Zuletzt oder auch gerne mal mittendrin ist er dann zu sehen: The Godfather of Menschenheilung, auch bekannt als Oberarzt.
Nun muss man wissen: Die Wege einer Klinik gehen einem in Fleisch und Blut über, wenn man dort eine gewisse Zeit verbringt. Man weiß genau, wann man spätestens den Kopf heben muss, um nicht gegen Türen oder Aufzüge zu laufen. Die Anzahl der Schritte ist einem in Gewebe und Nervenbahnen eingebrannt. Man weiß, wann es Zeit ist, abzubiegen oder streckt die Hand nach der Türklinke instinktiv aus, ohne sie wirklich zu sehen. Geistiges Auge und so.
Der Tross, der da jeden Tag gemeinsam durch das Haus dem Besprechungszimmer entgegentrabt, arbeitet mit höchster Effektivität. Aus Gründen der Sparsamkeit kürzt er gerne den Weg ab und düst durch die Notaufnahme. Drei Flure und mehrere Abbiegungen werden dadurch eingespart. Im Bereich des Warteraums wird es so, morgens um kurz vor 8 Uhr, schon mal voll.
Trotzdem muss man das verstehen: „Spare in der Zeit, dann hast du in der Not!“ Oder, wie meine ehemalige Oberschwester Hilde einst schon sagte, „Wenn du sitzen kannst, dann sitze und wenn du liegen kannst, dann liege.“ Vielleicht hätte sie hier noch wohlwollend hinzugefügt: „Und wenn du abkürzen kannst, kürze ab!“
An einem dieser Tage hatte sich der Oberarzt dann mal verspätet. Mein Kollege rief aus Gründen der Zeitersparnis schon einmal einen Patienten auf. Schwungvoll öffnete er die Tür, um den Erkrankten hereinzulassen. Da krachte es kräftig, gefolgt von einem stöhnenden Schmerzenslaut und einem gepflegten Fluch.
Der Oberarzt hatte sich an diesem Morgen scheinbar verschätzt. Zu spät schaute er auf, um zur Türklinke zu greifen, die ja auch in diesem Moment nicht an ihrem gewohnten Platz war, weil der Kollege gerade die Tür aufriss. Die Gewohnheit, der Schutz des Schwarms und die Dienstbeflissenheit meines Kollegen waren dem Oberarzt in die Quere gekommen. Nun zierte seine Denkerstirn eine hübsche Platzwunde.
Sofort wurde sein Wunscharzt aus der Besprechung geholt. Ein Klammerpflaster obendrauf und ein Coldpack später war er geheilt und nahezu wie neu – doch scheinbar in seinen Grundfesten erschüttert. Diese gefährliche Tür! Was hätte nicht alles passieren können. Niemand sollte erneut zum Opfer werden. Er würde es zu verhindern wissen.
Und so kam es eines Tages, dass, als ich durch die gemeingefährliche Tür zum Dienst gehen wollte, eine kleine Gruppe hochmotivierter Menschen davorstand. Der Oberarzt ebenso wie der Klinikleiter, die Chefs der Notaufnahme, der Sicherheitsbeauftragte der Klinik mit wichtigem Klemmbrett im Anschlag und die Pflegedienstleitung. Sie alle hatten sich eingefunden, um eine Art Sicherheitsbegehung zu machen.
Man kam nach einer Stunde intensiven Gesprächs drauf, ein Stück (abwaschbares – natürlich!) Trassierband anzubringen. Sowie eine Gummischutzlitze über die gesamte Türstocklänge. Zur Abfederung und Sicherheit zukünftiger Blindfische, die gerne gegen Türen laufen. Zumauern wurde verworfen, ebenso wie eine Art Poller mitten im Flur.
Nur wir – die Knechte und Mägde des Hauses – blieben ein wenig ratlos zurück. Hätten wir Ähnliches erwarten könne, wären wir gegen diese Tür gelaufen? Oder hätte man uns ins Genick gehauen, vielleicht mit einem strengen: „Mach halt die Augen auf, du ****!“ (Ergänze ein Schmähwort deiner Wahl).
Hätte man uns Gehör geschenkt, wenn wir auf die Tür aufmerksam gemacht hätten? Oder wäre uns das wegen möglicher Peinlichkeit überhaupt gar nicht in den Sinn gekommen? Diese Fragen werden mir wohl nie beantwortet.
Bildquelle: Aarón Blanco Tejedor, Unsplash