Sollte der Staat Leitungswasser mit Fluorid anreichern und Mehl mit Folsäure ergänzen? Sollte er die Impfpflicht einführen und Alkohol regulieren? Darf sich also eine Regierung das Recht nehmen, zu entscheiden, was gut für die Bürger ist? Die Vor- und Nachteile aus medizinischer Sicht.
Im Kölner Raum erkranken seit einigen Wochen mehr und mehr Patienten an Masern. Wie das Gesundheitsamt mitteilt, gibt es im Kölner Stadtgebiet mittlerweile 55 bestätigte Meldungen. Das sind mehr als doppelt so viele wie im Vergleichszeitraum 2017. Die Altersspanne reicht vom Säuglingsalter (sechs Monate) bis zum Seniorenalter (62 Jahre). Und wieder einmal steht die Impfpflicht auf der politischen Agenda.
Wissenschaftler forcieren die Debatte durch neue Zahlen. Sie fanden heraus, dass bis zu 80 Prozent aller Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die in 2017 an Masern erkrankt sind, nicht geimpft worden waren. Italien und Frankreich haben ihre schon länger bestehende Impfpflicht deshalb u.a. um Masern erweitert. Professor Lothar H. Wieler ist Präsident des Robert Koch-Instituts und lehnt solche Maßnahmen für Deutschland ab. Lücken gebe es vor allem bei den 18- bis 44-Jährigen. Mehr als 40 Prozent seien nicht gegen Masern geimpft. Er konstatiert, eine Impfpflicht sei „möglicherweise sogar kontraproduktiv“. Man würde den Eindruck erwecken, dass „sachliche Argumente doch nicht so gut sind“. Ärzte versuchen derzeit, Patienten mit Fakten zu überzeugen, sich impfen zu lassen. Zwang gehört nicht ins Repertoire. Staatlicher Druck könnte diese Linie konterkarieren, befürchtet Wieler. „Eine verpflichtende Information zu Impfungen, die auch vergütet wird, bringt mehr als die Einführung einer Impfpflicht“, ergänzt Professor Dr. Horst von Bernuth. Er ist Leiter der Sektion Immunologie an der Charite – Universitätsmedizin Berlin. Nicht alle Experten teilen diese Meinung. Proferssor Dr. Andrew Ullmann, Obmann der FDP im Gesundheitsausschuss des Bundestages und Infektiologe an der Universitätsklinik Würzburg, kann sich regionale Impfpflichten gut vorstellen. Im Wahlkampf forderten Liberale sogar bindende Regelungen für Kinder bis 14 Jahre gemäß Paragraf 20 Absatz 6 Infektionsschutzgesetz. Andere Länder gehen nicht nur bei Impfungen, sondern auch bei Lebensmitteln wenig zimperlich zur Sache.
US-Hersteller von Getreideprodukten werden von der FDA seit 1998 verpflichtet, raffiniertes Mehl mit 2,9 mg Thiamin, 1,8 mg Riboflavin, 24 mg Niacin, 0,7 mg Folsäure und 20 mg Eisen pro 500 g in den Handel zu bringen. Weltweit haben etliche Nationen Regelungen verabschiedet, um Getreide, Mais und/oder Reis anzureichern: Nationen mit Supplementation über Weizenmehl (rot), Weizenmehl plus Maismehl (grün), Weizenmehl plus Reis (orange), Weizenmehl plus Mais plus Reis (blau) oder Reis allein (gelb) © Food Fortification Initiative Jennifer Williams von den Centers for Disease Control and Prevention in Atlanta wollte wissen, ob die Supplementation nachweisbare Benefits bringt. Ein Mangel an Folsäure kann zu Neuralrohrdefekten wie Spina bifida und Anenzephalie führen. Deshalb analysierte Williams Daten aus 19 bevölkerungsbasierten Surveillance-Programmen. Sie fand heraus, dass sich die Prävalenz bei Neuralrohrdefekten von 6,5 auf 4,0 Fällen pro 10.000 Lebendgeburten pro Jahr verringert hat. In absoluten Zahlen sind das 904 Kinder weniger mit Spina bifida und 422 Kinder weniger mit Anenzephalie. Prävalenz von Neuralrohrdefekten (neural tube defects, NTDs) im zeitlichen Verlauf; "Fortification" bedeutet Folsäure-Zusatz © CDC Deshalb sehen viele Verbraucher in angereichertem, raffiniertem Mehl ein wertvolles Lebensmittel. Doch das ist nicht ganz richtig: Williams fokussiert sich bei ihren Untersuchungen auf Fehlbildungen während der Embryogenese. Das industrielle Getreideprodukt hat jedoch weniger Ballaststoffe als Vollkornmehl. Diese unverdaulichen Nahrungsbestandteile verringern möglicherweise das Risiko, an einer koronaren Herzerkrankung, an einem Kolonkarzinom u.a. zu erkranken. Epidemiologische Studien liefern unterschiedliche Hinweise: Manche Arbeiten bestätigen Assoziationen zwischen Ballaststoffen und niedrigeren Krankheitsrisiken, andere Papers finden keine Belege. Klar ist, dass Vollkornprodukte eine niedrigeren glykämischen Index als raffinierte Getreideprodukte haben. Sie erhöhen den Blutzucker schwächer und sättigen länger. Damit ist Vollkornmehl generell ein hochwertigeres Lebensmittel als angereichertes Weißmehl, trotz der Studien von Williams und Kollegen.
Gesundheitspolitiker haben nicht nur Lebensmittel, sondern auch das Leitungswasser im Visier. Ihr Ziel ist, effektiv gegen Karies vorzugehen. Weltweit haben zwischen 60 bis 90 Prozent aller Kinder und knapp 100 Prozent aller Erwachsenen Kavitäten in ihren Zähnen, berichtet die WHO. Seit Ende der 1960er-Jahre raten Experten, Leitungswasser automatisiert mit Fluorid zu versetzen. Ihrer Empfehlung sind viele Länder gefolgt, allen voran die USA (Versorgung von 67 Prozent aller Einwohner), Australien (70 Prozent), Brasilien (41 Prozent) und Chile (70 Prozent). In Europa bleibt es bei mageren 2 Prozent. Viele Länder, auch Deutschland, haben regionale Modellprojekte durchgeführt, diese jedoch aufgrund kontroverser Debatten eingestellt. Länder mit ausreichender Fluoridversorgung durch künstliche Zugabe (Nord-, Südamerika, Australien) oder durch ausreichende natürliche Mengen im Grundwasser (China, u.a.) © Eubulides / Wikipedia, CC BY SA 3.0 Das liegt auch an wissenschaftlichen Unsicherheiten. Laut Metaanalysen der Cochrane Collaboration war es um die Evidenz Mitte 2015 schlecht bestellt: „Es liegen keine ausreichenden Informationen vor, um die Auswirkungen von Fluoridierungsprogrammen auf Karies zu evaluieren“, heißt es im Report. Experten verweisen auf den hohen Bias vieler Studien. In vielen Fällen fehlten genaue Daten zur aufgenommenen Fluoridmenge. Ende 2017 veröffentlichte Anne E. Sanders von der University of North Carolina, Chapel Hill, weitere Ergebnisse. Zusammen mit Kollegen hat sie Daten von rund 16.000 Kindern und Jugendliche zwischen zwei und 19 Jahren aus der National Health and Nutrition Examination Survey (NHANES) analysiert. Sanders standen Blutwerte von 12.000 Probanden vor. Hinzu kamen 5.600 zahnärztliche Untersuchungen. Tranken Kinder kein Leitungswasser mit Fluorid-Zusatz, hatten sie eine um 13 Prozent höhere Karies-Prävalenz. Dem stehen höhere Bleiwerte im Blut gegenüber. Wer sich am Wasserhahn bediente, hatte ein um 37 Prozent höheres Risiko, die Schwelle von 3 μg/dL zu überschreiten. Das liegt an alten Leitungen. Trotzdem zieht die Erstautorin als Fazit: „US-Bürger sollte unabhängig vom Alter fluoridiertes Leitungswasser trinken.“ Obergrenzen gebe es nicht. Gegner führen vor allem toxische Effekte an. „Die Fluorid-Lüge: Rattengift für die Zähne“, heißt es in einem deutschsprachigen Online-Medium. Die Autoren vergessen, dass tatsächlich die Dosis das Gift macht. Wasserlösliche Fluoride sind erst in größerer Menge schädlich (s.u.). Für Menschen sind 5 mg Fluorid pro Kilogramm Körpergewicht und Tag akut toxisch. Das entspricht bei einem Körpergewicht von 70 kg 350 mg Fluorid. Deutlich geringere Mengen führen bei langfristiger Einnahme zu chronischen Erkrankungen wie der Fluorose:
Zahnfluorose © Matthew Ferguson 57 / Wikipedia, CC BY-SA 4.0 WHO-Toxikologen empfehlen deshalb, Leitungswasser mit höchstens 1,5 mg/L Fluorid anzureichern. US-Gesundheitsbehörden arbeiteten mit 0,7 bis 1,2 mg/L. Nachdem vermehrt Fälle mit Zahnfluorose auftraten, ruderte die US Environmenal Protection Agency (EPA) zurück und legte 0,7 mg/L als Richtwert fest. Zum Vergleich: „In Deutschland sind die Fluoridgehalte des Trinkwassers im Allgemeinen niedrig“, schreibt das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR). In mehr als 90 Prozent der Fälle liege der Gehalt unter 0,3 mg Fluorid/L. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) rät speziell bei kleinen Kindern zu Fluoridlack als Karies-Prophylaxe. Kinder und Erwachsene sollten fluoriertes Speisesalz verwenden. Weitere Maßnahmen wie Fluorid im Trinkwasser sind derzeit nicht vorgesehen und würden sich angesichts unklarer Risiken politisch kaum durchsetzen lassen. „Fluorid macht Babys im Mutterleib dümmer“, berichtete etwa der MDR in dem Zusammenhang. Basis ist eine Publikation von Morteza Bashash, Forscher an der University of Toronto. Er fand bei der ELEMENT-Studie (Early Life Exposures in Mexico to Environmental Toxicants) Assoziationen zwischen höheren Fluoridmengen während der Schwangerschaft und einem niedrigeren Intelligenzquotienten im Alter von vier und sechs bis 12 Jahren. Die Arbeit hat ihre Schwächen. Bei der Auswertung lagen nur Daten von 299 Müttern und ihren Kindern vor. Die aufgenommene Fluoridmenge konnte Bashash nicht ermitteln. Vielmehr bestimmte der Forscher ausgeschiedenes Fluorid im Urin. Er bemühte sich, weitere Einflussfaktoren zu eliminieren. Das ist bei einer komplexen Größe wie dem IQ kaum möglich.
Staatliche Maßnahmen greifen nicht nur bei potenziell gesundheitsfördernden Stoffen, sondern auch bei gefährlichen Substanzen wie Alkohol. Deutschland klärt Verbraucher auf und versucht, über Steuern zumindest eine gewisse Regulierung durchzusetzen – nicht unbedingt mit Erfolg. Zwischen 2005 und 2016 ist die Zahl an Patienten mit akuter Ethanolintoxikation trotzdem von 88.938 auf 115.456 angestiegen, berichtet das Statistische Bundesamt (DESTATIS). Und laut „Jahrbuch Sucht 2018“ der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen hat sich der Gesamtverbrauch nur um 1,25 Prozent verringert (Stand 2016), verglichen mit 2015. In Schweden ist der Umgang mit Alkohol deutlich restriktiver als hierzulande. Bis 1995 erhielten Konsumenten Getränke über 3,5 Volumenprozent Ethanol nur in staatlichen Alkoholläden (Systembolaget) ohne Selbstbedienung, aber mit restriktiven Öffnungszeiten und mit langen Warteschlangen. Rabatte oder Bündelungen („Sixpacks“) sind bis heute untersagt. Mit dem Beitritt zur Europäischen Union 1995 verlor Schweden Teile seines Monopols. Ab sofort verkauften Restaurants Alkohol. Erst 2007 entschied der Europäische Gerichtshof in Luxemburg, schwedische Bürger dürften nicht gezwungen werden, alkoholische Erzeugnisse über staatliche Läden zu beziehen. Richter stellten ihnen frei, Getränke per Versandhandel in anderen EU-Staaten zu beziehen oder bei Reisen im Ausland zu erwerben. Zwischen 1996 und 2005 stieg der Konsum wenig überraschend um 21 Prozent. Systembolaget-Läden gibt es immer noch, nicht jeder Bürger bestellt im Ausland. Bis heute ist der Alkoholmarkt deutlich stärker reguliert als in Deutschland. Bei uns verkauft jede Tankstelle, jeder Kiosk und jeder Supermarkt Hochprozentiges. In Schweden fordern indes einige Politiker, den Markt stärker zu liberalisieren. Welche Folgen die komplette Freigabe von Alkohol in Schweden nach deutschem Vorbild hätte, wurde in einer Studie untersucht bzw simuliert. Experten rechnen pro Jahr mit bis zu 1.580 zusätzlichen Toten, vor allem durch Unfälle. Hinzu kämen im gleichen Zeitraum bis zu 14.200 zusätzliche Misshandlungen und bis zu 16 Millionen zusätzliche Krankschreibungen. Aus volkswirtschaftlicher und gesundheitsökonomischer Sicht spricht viel für die staatliche Kontrolle.
Deutschland arbeitet bei Alkohol, Impfungen und Fragen zur gesunden Schwangerschaft eher mit Aufklärung als mit Zwang. Bürgerinnen und Bürger haben zahlreiche Grundrechte, etwa das Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und auf die Freiheit der Person. Patienten dürfen nicht nur Untersuchungen oder Eingriffe ablehnen, sondern auch ihren potenziell mehr oder weniger gesunden Lebensstil selbst wählen.