Sechs Patienten, mit Kanüle beatmet. Sie starrten stumm an die Decke. Mein erster Besuch in einer Beatmungs-WG war erschütternd. 15 Jahre später läuft das Geschäft mit den wehrlosen Patienten noch immer. Höchste Zeit, dass sich etwas ändert.
Mein erster Kontakt mit einer Beatmungs-WG muss im Jahr 2005 gewesen sein. Damals war ich im Rahmen eines Praktikums auf Hausbesuch mit einem niedergelassenen Allgemeinmediziner. Im Vorfeld bot er mir an, den Nachmittag frei zu machen, was ich als hochmotivierter Jungmediziner natürlich ablehnte. Ich wollte Hausbesuche machen.
Hinterher zeigte sich aber, dass er wohl nicht an einer Verbesserung meiner Work-Life-Balance interessiert gewesen war, sondern verhindern wollte, dass ich diese Beatmungs-WG von innen zu sehen bekomme. Denn der Besuch war ihm sichtlich unangenehm.
Das Haus war von außen ein komplett unscheinbares Wohnhaus, darüber und darunter befanden sich ebenfalls Wohnungen. In einer dieser stinknormalen Wohnungen von ca. 100 qm waren in zwei Einzelzimmern und zwei Doppelzimmern insgesamt sechs Patienten in Pflegebetten untergebracht. Alle sechs waren über eine Trachealkanüle beatmet. Fünf von sechs Patienten guckten an die Decke, eine Kommunikation mit der Außenwelt war, soweit ich das beurteilen konnte, nicht möglich.
Ein Patient schien zumindest mit Blicken durch den Raum das Geschehen zu verfolgen und es machte den Eindruck, als wenn er zumindest zeitweise wahrnehmen würde, was um ihn herum geschah. Eine adäquate Kommunikation erschien mir aber auch hier nicht möglich, es wäre unmöglich gewesen den Willen des Patienten zu befragen, dennoch hatte ich den Eindruck, es wäre innere Abwehr gegenüber pflegerischen Handlungen sichtbar. Die meisten der Patieten in diesen Beatmungs-WGs liegen entweder im Wachkoma oder leiden an einer fortgeschrittenen schweren Lungenerkrankung.
Gemeinsam mit den sechs Patienten lebte hier auch eine Pflegekraft.Eine Pflegekraft für alle sechs Patienten. Es bimmelte mal hier und mal da, eigentlich war ständig etwas zu tun. Absaugen, Filter wechseln, PEG piept, PEG-Beutel (mit künstlicher Ernährung) wechseln, wieder absaugen.
Alle acht Stunden war Schichtwechsel, kurze Übergabe, nächste Pflegekraft übernimmt. Alleine mit sechs Intensivpatienten. Ach so, Moment – Bewohner! Bewohner hieß das. Es wurde großen Wert drauf gelegt, dass es sich hier nicht um Patienten handelte. Voll versorgt mit künstlicher Ableitung von Stuhl und Urin (SPFK) und voll ernährt über eine PEG, kontinuierlich assistiert beatmet. Aber: Bewohner, keine Patienten.
Die Wohnung gehörte offiziell einem der Patienten, Herrn Huber. Herr Huber hatte wiederum fünf Jahre vorher einen schweren Schlaganfall erlitten in dessen Folge es zu einem fulminantem Untergang des nahezu kompletten Hirngewebes kam. Er wurde damals erst operiert (kraniotomiert) und im Verlauf der weiteren intensivmedizinischen Therapie nicht mehr richtig wach. Kein Wunder, es fehlte nahezu das komplette Gehirn. Die Familie drängte auf eine Fortsetzung der Therapie, ein Ableben des Patienten wäre mit erheblichen wirtschaftlichen Problemen verbunden gewesen. Als Leiter eines Unternehmens hatte er es versäumt, den Nachlass zu regeln, die Firma hatte sich zerschlagen. Herr Huber hatte wohl aber diverse Versicherungen abgeschlossen. Krankentagegeldausgleich, Rente, ein ganz gutes Einkommen war das.
Ein Familienmitglied organisierte also eine 24-Stunden-Betreuung. Zunächst zu Hause, die Kosten waren enorm, es musste eine andere Lösung her. Eine Freundin der Familie arbeitete als Pflegekraft bei Herrn Huber und schlug vor, noch zwei Patienten dazu holen, dann könne man die Kosten dritteln. Sie organisierte ab da den Schichtdienst, ihr Mann übernahm die Verwaltung und Abrechnung. Natürlich blieb es nicht bei drei Patienten, es wurden noch mehr. Am Ende entstand diese WG, in der sechs Menschen dahinsiechten, die mal ein eigenes, selbständiges und selbstbestimmtes Leben geführt hatten.
Darf man das? Möchte das irgendjemand? Ich kenne niemanden, der ein solches Dasein fristen möchte. Niemanden, nicht einen einzigen Menschen. Aber ich habe in meiner beruflichen Laufbahn unzählige Gespräche mit Angehörigen geführt, die genau diesen vegetativen Zustand als akzeptabel bewerteten. Sicher nicht optimal, aber immer noch besser als der Tod. Es ist nicht das Ende. Solange der Körper noch warm ist, lebt er noch und vielleicht wird er ja wieder wach. Das redet man sich ein, um eine solche Entscheidung sich selbst gegenüber rechtfertigen zu können. Nie war einer der Angehörigen glücklich mit der Entscheidung, letztlich waren die wenigsten aber konsequent genug, die Terminierung der Intensivtherapie in die Wege zu leiten.
Und jetzt kommt Jens Spahn und möchte sich die Betreiber von Beatmungsheimen und Beatmungs-WGs vorgenommen. Und ich finde das richtig gut.
Ein Schritt, der seit Jahren überfällig ist, das Thema ist eigentlich eher ein alter Hut. Weil sich aber niemand so richtig an dieses heiße Eisen rangetraut hat, konnten geschäftstüchtige Anbeiter seit den 90er Jahren immer mehr Beatmungs-WGs aufbauen. Die Krankenhäuser haben sich gefreut, weil sie endlich ihre lästigen dauerbeatmeten Patienten los werden, Behandlungsplätze in Reha- oder Weaningkliniken sind schließlich schwierig zu finden und die Behandlung multimorbider Patienten wird gerne mal unter Hinweis auf das fehlende Rehabilitationspotenzial abgelehnt. Diese Menschen fallen in ein Versorgungsloch.
Die Betreiber der Beatmungs-WGs haben sich gefreut, weil sie an jedem der Patienten richtig viel Geld verdienen. Und die Krankenkassen haben brav bezahlt.
Verlierer ist die Allgemeinheit, die die Kosten tragen muss.
Wer sich näher mit der Materie beschäftigen möchte, darf sich gerne mal hier zu Beatmungs-WG belesen. Der Fachausdruck dafür lautet übrigens „außerklinische Intensivpflege“ und damit kann man eine Menge Geld verdienen. 20.000 Euro im Monat sind viel Geld und die sind auch gerechtfertigt – wenn, ja, wenn man Intensivpflege außerklinisch auch mit dem nötigen personal- und materialintensiven Aufwand betreibt.
Wenn man aber die Kosten drückt, und das am besten bei gleichbleibenden Einnahmen, dann fängt die Sache an lukrativ zu werden. Wie man das am Besten macht, kann man sich unter anderem in diesem Beitrag des Bayerischen Rundfunks ansehen. Natürlich gibt es auch Erfolgsgeschichten, die Vorzeige-WGs, die intensivpflichtigen Menschen ein Leben außerhalb der Klinik ermöglichen. Menschen, die beatmet werden müssen, aber die aus der Klinik rauswollen und in einer gemütlichen häuslichen Umgebung leben wollen. Wie eine normale Wohnung eben. Und es ist in dieser Diskussion wichtig, hier die Guten von den Bösen zu trennen. Wir müssen aber vor allem über die Bösen reden. Menschen, die unter Vortäuschung falscher Tatsachen pflegerische Versorgung heucheln und nur materielle Interessen haben.
Da agieren windige Geschäftemacher unter dem Deckmantel der Menschlichkeit und missbrauchen Patienten, die sich nicht dagegen wehren können. Ein weiteres Problem ist die Qualifikation des Personals. Da arbeiten Altenpflegehelfer, die in Beatmungspflege angelernt werden (oder auch nicht) und die sollen dann das machen, was man Intensivpflege nennt.
Ein aktuelles Fallbeispiel aus meinem Alltag: Eine fortgeschritten demente 85-jährige Dame stürzt im Pflegeheim auf den Kopf, nach dem Sturz trübt sie ein, wird bewusstlos. Notarzt und Rettungsdienst versorgen die Patientin, intubieren, bringen die Dame in unseren Schockraum. Nach Diagnostik einer Hirnblutung erfolgt die neurochirurgische Operation mit Ausräumung der Blutung. Die Dame wird nicht richtig wach, Schutzreflexe sind nicht ausreichend vorhanden, am achten Tag wird nach frustranen Extubationsversuchen dilatiert. Eine Anschlussrehabilitation wird abgelehnt (kein Rehapotenzial), die Geriatrie lehnt ab: „Die ist beatmet mit einer Trachealkanüle, sowas machen wir hier nicht, da können wir unsere Komplexpauschale nicht abrechnen“. Normalstation mit Trachealkanüle geht auch nicht, Weaningklinik lehnt ab und das Krankenhaus will nur noch eins: diese Frau loswerden. Wir haben die OP gemacht, jetzt brauchen wir das Intensivbett für andere OPs.
Erst im Frühjahr haben zwei weitere Beatmungs-WGs in der Nähe aufgemacht und einen Anruf später kann die Dame dorthin. Krankentransport bestellt, Papiere fertig, Tschüss und gute Reise.
Die Patientin wird jetzt bis ans Ende ihres Lebens beatmet an die Decke starren und das kostet uns alle 20.000 Euro im Monat. Hätte man entweder gar nicht erst operiert oder nach erfolgter OP versucht, sie mit intensiver Logopädie, Schlucktraining und Atemtraining von der Beatmung zu entwöhnen, hätte das sicher viel Geld gekostet, langfristig aber ein besseres Leben ermöglicht und Kosten gespart.
Als Notarzt war ich oft in Beatmungs-WGs und habe teils katastrophale Zustände vorgefunden. Ich habe ein Beatmungsgerät gesehen, bei dem Mullbinden auf den Lautsprecher geklebt wurden, damit der ständig bimmelnde Alarm „nicht so nervt“. Ich fand hygienische Mängel vor: unsterilisierbare Einmalprodukte wurden mehrfach verwendet, Einmaltrachealkanülen ausgekocht und über Monate benutzt. Mir begegneten Qualifikationsdefizite: „Ich bin neu hier, ich habe meine erste Schicht, ich war vorher in der ambulanten Pflege.“
Wie genau die Änderungen aussehen sollen, die Jens Spahn sich überlegt und wie sie sich dann vor allem in der Realität umsetzen lassen, ist noch nicht klar. Ich halte es für dringend notwendig, dass bei jedem einzelnen Patienten eine Bedarfsanalyse gemacht wird und diese Beatmungs-WGs verschärften Kontrollen unterzogen werden.
Unangemeldete Kontrollen und verbindliche Vorgaben zur Mindestqualifikation für das eingesetzte Personal würden helfen, die schwarzen Schafe zu finden. Eine angepasste Vergütung, die weniger Anreize setzt, Patienten beatmet von einer Intensivstation in eine solche WG abzuschieben, wäre ein Anfang.
Die Gegner der Reformpläne fürchten das Ende des Goldesels und werden nicht müde, Vorbild-Konzepte zu präsentieren. Ja, die gibt es, aber sie sind nicht repräsentativ. Mir sind vor allem die Negativbeispiele bekannt. Dubiose Betreiber, die sich nicht in die Karten gucken lassen.
Es wäre schön, wenn sich daran etwas zum Guten ändern würde. Ich würde es Jens Spahn wünschen, dass er einen nennenswerten Erfolg für die Allgemeinheit erzielen kann, dass kriminelle Handlungen beendet werden und dass am Ende ausnahmsweise mal die betroffenen Patienten gewinnen.
Bildquelle: qusv yang, unsplash