Wasser predigen, Wein trinken: Viele Ärzte vernachlässigen ihre eigene Gesundheit sträflich. Steigt der berufliche Stress, rutscht so mancher Mediziner in die Sucht ab. Doch mit erhobenen Zeigefingern ist niemandem geholfen.
Im Dezember veröffentlicht das „BMJ“ traditionell Studien mit einem gewissen Augenzwinkern, aber dennoch mit Relevanz. Ende 2015 ging es um den Kaffeekonsum von Ärzten. Karlmeinrad Giesinger wertete Daten der Kantine im Kantonsspital St. Gallen aus. Er fand einen signifikanten Zusammenhang zwischen medizinischen Fachgebieten und erworbenen Tassen des Muntermachers. An der Spitze standen Orthopäden (189 Tassen pro Person und Jahr), gefolgt von Radiologen (177) und allgemeinen Chirurgen (167). Noch wichtiger war die hierarchische Position: Chefärzte (141) ließen sich deutlich mehr Kaffee schmecken als Assistenzärzte (96). Erklärungen liefert Giesinger nicht. Er ist - vielleicht eher zufällig - über ein gewaltiges Problem gestolpert: die berufliche Situation junger Kollegen.
Dazu ein Blick in die Literatur. Douglas A. Mata von der Harvard Medical School, Boston, befasste sich detailliert mit der seelischen Gesundheit von Assistenzärzten. Seine Metaanalyse schloss 54 Studien der letzten Jahrzehnte ein. Mata standen Daten von insgesamt 17.560 Nachwuchsmedizinrn zur Verfügung. Er fand heraus, dass die Gesamtprävalenz depressiver Störungen bei 29 Prozent liegt, das entspricht 4.969 von 17.560 Personen. Je nach Instrument gab es starke Schwankungen. Beim Patient Health Questionnaire (PHQ-9) waren es 20,9 Prozent, und beim Primary Care Evaluation of Mental Disorders (PRIME-MD) 43,2 Prozent. Zu Beginn der ärztlichen Ausbildungszeit fand Mata einen Anstieg um 15,8 Prozent. Lange Arbeitszeiten, viel Verantwortung und eine niedrige hierarchische Stellung im Klinikbetrieb fordern ihren Preis. Srian Seen, einer der Koautoren, kritisiert, zahlreiche Reformen der letzten Jahre hätten ihr Ziel verfehlt. Mata zufolge erhöht sich der Anteil junger Mediziner mit depressiver Symptomatik um rund 0,9 Prozent pro Jahr. In einem Kommentar zieht Thomas Schwenk von der University of Nevada School of Medicine in Reno, Parallelen zum Burnout-Syndrom: Ärzten mit depressiver Symptomatik unterliefen mehr Behandlungsfehler, sie würden sich unprofessioneller verhalten und vor allem keine medizinische Unterstützung in Anspruch nehmen.
Dass Mediziner kaum auf ihre Gesundheit achten, bestätigen auch Zahlen der Universität Los Angeles. Ärzte nahmen 4.000 Kollegen in eine Studie zum Gesundheitsverhalten auf. Jeder zweite Teilnehmer hatte keinen Impfschutz gegen Hepatitis oder Influenza, und jeder fünfte Interviewte trieb keinen Sport. In der Schweiz sieht es nicht besser aus, berichtet der Genfer Kollege Martin Schneider. Er befragte 1.784 Mediziner zum Umgang mit ihrem Körper. Von allen Teilnehmern behandelten sich 90 Prozent selbst. In den letzten sieben Tagen hatten 65 Prozent verschreibungspflichtige Medikamente eingenommen. Dazu gehörten primär Analgetika (34 Prozent), Sedativa (14 Prozent) und Antidepressiva (sechs Prozent). Trotz gesundheitlicher Probleme gaben 47 Prozent aller Interviewten an, innerhalb von zwölf Monaten keinen anderen Arzt konsultiert zu haben. Nur jeder Fünfte hatte einen Hausarzt. Rund 35 Prozent sagten zur Begründung, es würde ihnen schwer fallen, kollegiale Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Professionelle Therapien wären in vielen Fällen aber dringend erforderlich. Bereits im Jahr 2011 führte eine anonyme Online-Befragung mit 1.287 Ärzten zu erschreckenden Resultaten. Sieben Prozent sagten von sich, Alkohol und/oder Medikamente zu konsumieren, um berufsbedingten Stress abzubauen. Bei drei Prozent traf die Aussage sogar „stark zu“. Zu ähnlichen Resultaten führte eine Studie der Röher-Parkklinik in Eschweiler mit 1.287 Ärzten. Rund zehn Prozent konsumierten Alkohol beziehungsweise Medikamente aufgrund ihrer beruflich belastenden Situation. Weitere 20 Prozent stimmten dieser Aussage zumindest teilweise zu. Autor Dr. Wolfgang Hagemann spricht von einem deutlichen Anstieg riskanter Verhaltensweisen seit den 1990er Jahren. Ärzte seien deutlich stärker betroffen als die durchschnittliche Bevölkerung. Bei Angehörigen aller Heilberufe kommt es auch immer wieder zu Todesfällen durch Propofol. Laut Arbeiten des Berufsgenossenschaftlichen Universitätsklinikums Bergmannsheil, Bochum, untersuchten 16 von 32 gerichtsmedizinischen Instituten mindestens einen Todesfall mit Verdacht auf Propofol-Missbrauch innerhalb von zehn Jahren. Betroffen waren 27 Männer und 12 Frauen, darunter befandsen sich 22 Ärzte und 13 medizinische Fachkräfte. Kein Wunder, dass Gesundheitspolitiker fordern, Propofol der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV) zu unterstellen. Die Maßnahme wäre jedoch ein Tropfen auf den heißen Stein.
Viel wichtiger ist, Ursachen zu identifizieren. In diesem Zusammenhang veröffentlichte der Deutsche Ärztinnenbund Anfang Januar neue Zahlen. Einer repräsentativen Umfrage zufolge überlegen 47 Prozent aller Klinikärztinnen, ihre aktuelle Tätigkeit aufzugeben. 59 Prozent der befragten Ärztinnen und Ärzte fühlen sich psychisch belastet, und 70 Prozent gaben zu Protokoll, Arbeitszeiten würden ihre Gesundheit beeinträchtigen. Die Forderung: 91 Prozent wollen eine Wochenarbeitszeit bis 49 Stunden, arbeiten aber deutlich länger. Genau hier sollten Verantwortliche aktiv werden. Dr. Barbara Schmeiser, Vizepräsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes, fordert „mehr Personal bei Ärzten und Pflege, um endlich humanere Arbeitszeiten und flexible Arbeitszeitmodelle für eine bessere Work-Life-Balance zu ermöglichen“.