Der Medizintourismus boomt und der Markt wächst. Deutschland gehört ebenfalls zu den Zielen ausländischer Patienten. Doch auch die unseriöse Geschäftemacherei nimmt zu.
Weltweit reisen immer mehr Menschen für eine medizinische Behandlung in ein anderes Land. Durch diesen Medizintourismus erhalten Patienten aus aller Welt theoretisch Zugang zu hochwertiger Medizin, selbst wenn diese im eigenen Land nicht verfügbar ist. Deutschland gilt als eine der Top-Destinationen. Das Geschäft mit den Auslandspatienten spült hier viel Geld ins Land und in das Gesundheitssystem. Das klingt lukrativ und gleichzeitig aus sozialer Perspektive sinnvoll. Doch die Welt des Medizintourismus muss sich hierzulande sowie global mit ethischen und rechtlichen Fragen auseinandersetzen.
Kaum eine Branche weist heute derart rosige Entwicklungstendenzen auf wie der Medizintourismus: Um 25 Prozent jährlich soll der globale Markt im kommenden Jahrzehnt wachsen. Kein Wunder also, dass mittlerweile über 70 Länder weltweit aktiv um Medizintouristen werben. Dazu gehört auch Deutschland mit seiner Spitzenmedizin zu verhältnismäßig günstigen Preisen.
Das Geschäft mit den Medizintouristen lief bisher gut für die deutschen Kliniken: Im Jahr 2017 strömten laut Jens Juszczak, Wirtschaftswissenschaftler und Medizintourismusexperte der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, knapp 250.000 ausländische Patienten aus 177 Ländern nach Deutschland. Damit hatte sich im vergangenen Jahrzehnt die Zahl der Auslandspatienten verdoppelt. Schätzungsweise 65 Prozent aller stationären internationalen Patienten kommen aus der EU, die meisten davon aus den Nachbarländern Polen, Niederlande oder Frankreich. Zu den wichtigsten Nicht-EU-Herkunftsländern zählen Russland und die GUS-Staaten. Auch arabische Länder, wie Libyen, Saudi Arabien oder Kuwait, waren einst vorne mit dabei.
Deutschland ist bei ausländischen Patienten vor allem wegen der hochwertigen Chirurgie beliebt. Viele kommen für orthopädische oder neurochirurgische Eingriffe. Auch die hiesigen Möglichkeiten zur Tumorbehandlung sind für Menschen aus dem Ausland eine Reise nach Deutschland wert. Dem deutschen Gesundheitssystem brachten ausländische Patienten im Jahr 2017 immerhin 1,2 Milliarden Euro ein. Nicht einberechnet sind hier die Einnahmen aus nicht-medizinischen Aktivitäten, die sogar ein Vielfaches davon ausmachen würden, schätzt Juszczak. Schließlich werden Medizintouristen meist durch Angehörige begleitet und hängen an den Klinikbesuch ausgedehnte Sightseeing- und Shopping-Touren an. Als besonders lukrativ galt bisher das Geschäft mit den arabischen Patienten. „Sie bleiben im Schnitt zwei Monate im Land – bezahlt durch deren Gesundheitssystem, also durch den Staat,“ so Juszczak. Doch der Zustrom aus diesen Ländern ist im vergangenen Jahr deutlich gesunken. Früher seien allein aus Abu Dhabi jedes Jahr bis zu 800 Patienten nach Deutschland gekommen, im Jahr 2018 kam laut Juszczak kein einziger mehr. Das Wachstum scheint zu stagnieren.
Trotz der schlechten Aussichten ist Juszczak weiterhin überzeugt, dass die Einnahmen durch das internationale Patienten-Geschäft sowohl das deutsche Gesundheitssystem als auch den touristischen Standort stärken. Davon würden zudem die inländischen Patienten indirekt profitieren, wie Juszczak vermittelt: „Kliniken investieren in neue Technik und neues Personal.“ Auch sei in den Bettenstationen wegen der internationalen Patienten der Komfort gestiegen – was ebenfalls den inländischen Patienten zugute komme.
Doch wo viel Geld fließt, dort beginnen sich Interessen danach zu formen. Mit dieser Art Vorwürfen muss sich derzeit unter anderem das Klinikum Stuttgart auseinandersetzen. So schart sich rund um die Versorgung internationaler Patienten ein Kreis aus Geschäftsleuten, deren Tätigkeiten bisher kaum Regulierung erfahren. Besonders kritisch wird die Gruppe der Patientenvermittler betrachtet. Dabei handelt es sich häufig um Einzelpersonen, die im Ausland im Auftrag der Kliniken um Patienten werben. Sie sind vor allem in Russland und den arabischen Ländern aktiv. Einige der als Vermittler agierenden Einzelpersonen verfolgten allerdings unseriöse Geschäftspraktiken, weswegen sie auch „Krankenschlepper“ geschimpft werden. Man habe für das schnelle Geld Patienten nach Deutschland vermittelt, obwohl klar war, dass diesen nicht mehr medizinisch zu helfen war. Für die Vermittlung von Patienten zahlen manche Kliniken hohe Provisionen, etwa in Form von Kopfpauschalen, ungeachtet der Tatsache, dass diese in Deutschland sittenwidrig und demnach illegal sind.
Das Klinikum Stuttgart arbeitete, wie die Stuttgarter Zeitung berichtete, mit Vermittlern und Patientenbetreuern zusammen, die für die Patienten Provisionen kassierten. Ermittlungen deuten darauf hin, dass möglicherweise auch Botschaften am zweifelhaften Geschäft mit den internationalen Patienten beteiligt waren. Offenbar habe es zudem Mittäter und Mitwissende bis in die Führungsriege und die Politik gegeben.
Als saubere Alternative zum Geschäft der Patientenvermittler positionieren sich seit einigen Jahren Start-up-Unternehmen mit Medizintourismus-Vergleichsportalen. Medigo® ist eines dieser global tätigen Portale, unter anderem finanziert vom Konzern „LVMH Moët Hennessy – Louis Vuitton SE“, der insbesondere für Handtaschen und Champagner berühmt ist. Hell, freundlich und scheinbar transparent will Medigo® dem Patienten bei der Suche und Buchung von medizinischen Leistungen im Ausland behilflich sein.
Lächelnd strahlt ein Paar von der Portalseite herunter. User können zunächst Behandlungsart oder Erkrankungstyp in einem Pull-Down-Menü wählen: von der Zahnimplantation bis hin zur Chemotherapie, von Brustkrebs bis zum Katarakt. Als Suchresultat erhält der User eine Liste mit Kliniken, in denen die gefragte Untersuchung oder Behandlung stattfinden kann. Alle Informationen auf der Webseite gibt es in sieben verschiedenen Sprachen und die Preise sind in 22 Währungen darstellbar. Denn die Zielgruppe des in Berlin ansässigen Portalbetreibers ist, wie Juszczak verdeutlicht, nur zu einem Bruchteil deutsch. Die meisten Kunden würden von anderen Teilen der Erde stammen.
Bei solchen Vergleichsportalen ist allerdings nicht unbedingt alles so transparent, wie es scheint. Juszczak testete 2016 mehrere Vergleichsportale und wunderte sich über die Ergebnisse. Nach der Sucheingabe von „Hirntumorentfernung“ wurden ihm Kliniken vorgeschlagen, die nicht einmal über eine Neurochirurgie verfügten. Auch drei Jahre nach seiner Testung finden sich nach Eingabe des Suchbegriffs „Hirntumorentfernung“ unter Einschränkung auf deutsche Kliniken auf Medigo® ähnlich fragwürdige Treffer. Bei Sortierung nach „bester Treffer“ wird zuoberst eine Berliner Klinik gelistet, die eigentlich auf Sportverletzungen spezialisiert ist – bestimmt nicht die beste Adresse für eine Hirntumorentfernung.
Für Juszczak steht daher auch heute noch fest: „Vergleichsportale sind nicht geeignet für die Vermittlung von komplexen Behandlungen.“ Es sei nicht möglich, eine schwerwiegende Erkrankung und bestehende Komorbiditäten durch einfache Suchbegriffe zu erfassen. Problematisch findet der Wirtschaftswissenschaftler die Portale auch, weil finanzielle Anreize die Suchergebnisse negativ beeinflussen könnten. Denn die Kliniken zahlen für eine Präsenz auf dem Portal, was als Marketingservice abgerechnet wird. „Wenn Patienten nur wegen der Provisionen zu bestimmten Kliniken geschoben werden, finde ich das ethisch sehr bedenklich“, sagt Juszczak in einem Interview mit N-TV.
Nicht nur das Geschäft rund um die Patientenvermittlung ist in Deutschland rechtlich stark eingeschränkt, es ist auch illegal, für die Versorgung von ausländischen Patienten mehr Geld zu verlangen als für die Versorgung von inländischen, auch wenn sich der Umgang mit Medizintouristen durch Sprachbarrieren und kulturelle Aspekte aufwändiger gestaltet. Muss beispielsweise ein Dolmetscher bei einem Patientengespräch hinzugezogen werden, so braucht das Gespräch mindestens doppelt so viel Zeit. Ein Mehraufwand, der – mit Ausnahme der Dolmetsch-Leistung – nicht abgerechnet werden darf. Doch wie können Kliniken mit internationalen Patienten dann überhaupt Gewinne erwirtschaften? „Die legalen Mittel sind stark beschränkt,“ gibt Juszczak zu bedenken. Finanziell lohne sich die Behandlung nur, wenn ausländische Patienten zusätzlich zum regulären Klinikbetrieb behandelt werden und damit für eine bessere Auslastung sorgen.
Um den Herausforderungen besser begegnen zu können, haben einige Kliniken internationale Abteilungen oder Büros eingerichtet, in denen beispielsweise auch mehrsprachiges Personal zur Verfügung steht. Eine solche Abteilung würde allerdings laut Juszczak zumindest teilweise durch die allgemeinen Krankenhausetats finanziert. Das gilt insbesondere für Kosten für Personal, Energie und Reinigung. „In welchem Ausmaß Geld aus den allgemeinen Etats hineinfließt, ist bisher nicht erforscht,“ sagt der Experte. Bringen Medizintouristen nicht die erhoffte Auslastung einer internationalen Abteilung, muss daher woanders eingespart werden.
Das Risiko ist somit groß, dass eine Klinik sich wissentlich oder unwissentlich illegaler Methoden bedient, um aus dem internationalen Geschäft doch noch mehr Profit zu schlagen, beispielsweise durch Abrechnung von unzulässigen Basistarifen, von höheren Pauschalen als im DRG-Katalog ausgewiesen oder von medizinischen Tätigkeiten, die nie geleistet wurden. Aufgefallen seien solche illegalen Aktivitäten etwa bei Patienten, die aus Libyen zur Behandlung nach Deutschland geschickt wurden. „Die Rechnungen waren in 90 Prozent der Fälle falsch,“ so Juszczak. „Es war nur eine Frage der Zeit, bis Ärger ins Haus kommt.“ Dem Verdacht auf überhöhte Abrechnungen muss sich derzeit etwa das Klinikum Stuttgart stellen.
Die Gesetzeslage in Deutschland schränkt die Geschäftemacherei mit Medizintouristen und damit auch die Kommerzialisierung des Geschäfts mit ausländischen Patienten erheblich ein. Kein Wunder also, dass hierzulande das Wachstum der Branche stagniert. In anderen Ländern sind Kopfpauschalen und andere Provisionsleistungen hingegen durchaus üblich, weswegen der globale Markt weiterhin floriert. Darüber hinaus scheint das Geschäft auch noch sozialen Mehrwert zu besitzen. Juszczak zufolge würden nicht nur wohlhabende Patienten vom Medizintourismus profitieren: „Der Großteil der Patienten ist nicht reich.“ So suchen etwa viele US-Amerikaner, die über keinen ausreichenden Krankenversicherungsschutz verfügen, gute und vor allem erschwingliche Behandlung auch in Deutschland.
Menschen aus ärmeren Gegenden würden durch Crowdfunding Zugang zu Therapien in einem fremden Land erhalten. Damit steht hochwertige Medizin erstmals prinzipiell jedem zu Verfügung – zumindest in der Theorie. Ein Crowdfunding über Spenden.org kann hier bestimmt nicht jedem Patienten helfen.
Ungerechtigkeiten könnten auch in jenen Ländern auftreten, die stark auf Medizintourismus ausgerichtet sind, warnt Experte Juszczak [1]. Indien und Thailand sind solche Nationen, in denen sich zahlreiche Kliniken, die wie Luxushotels anmuten, auf Medizintourismus ausgerichtet haben. Hier können Strandurlaub und fernöstliches Sightseeing mit Luxusbehandlungen wie einer lasergestützen Augen-OP oder einer Fettabsaugung kombiniert werden. Leidtragende sind hier die weniger zahlungskräftigen einheimischen Patienten, wie der Medizintourismus-Experte erläuterte: „Natürlich wird das Gesundheitssystem nicht besser, wenn sich die guten Ärzte nur noch auf Privatmedizin konzentrieren.“
Insgesamt ist es daher unwahrscheinlich, dass Medizintourismus wirklich allen Patienten Zugang zu hochwertiger, medizinischer Behandlung verschafft. Vielmehr besteht laut Juszczak das Risiko, dass die globale Branche zunehmend von kommerziellen Gesichtspunkten geleitet wird, was eine Mehr-Klassen-Medizin begünstigen kann.
Im Jahr 2025 soll die globale Medizintourismus-Branche drei Billionen US-Dollar wert sein, schenkt man dem Report des Medical Tourism Index von 2016 Glauben. Für den Medizintourismusexperten Juszczak sind solche Prognosen nicht mehr als Kaffeesatzleserei, dennoch steht auch für ihn fest, dass der globale Markt weiterhin boomt. Der Aufschwung würde laut dem Report des Medical Tourism Index unter anderem erst durch den Ausbau des internationalen Flugnetzes ermöglicht werden. Neben den ethischen Fragen eröffnet sich hier demnach auch eine ökologische Frage: Ist es für die Gesundheit unserer Erde, und damit auch für unser Wohlergehen, tragbar, dass sich diese Branche weiterentwickelt? Oder wäre es nicht nachhaltiger, dafür zu sorgen, dass hochwertige medizinische Versorgung in jedem Land für jeden zur Verfügung steht?
[1] Juszczak J., Kern I. (2018) Ethik im Medizintourismus. In: Gadatsch A., Ihne H., Monhemius J., Schreiber D. (eds) Nachhaltiges Wirtschaften im digitalen Zeitalter. Springer Gabler, Wiesbaden
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