Eine 45-jährige Frau bemerkt Blut in ihrem Urin. Dieses Symptom begleitet sie über ein Jahr lang. Die Ursache ist den Ärzten unerklärlich.
Es handelt sich um ein weiteres Symptom, das sie sich nicht erklären kann. Schon ein Jahr zuvor hatte die Frau monatelang mit einer viralen Gastroenteritis zu kämpfen. Anhaltende Übelkeit und Schmerzen führten dazu, dass sie sich zu einer einseitigen Ernährung entschied, die größtenteils aus Weizengrütze und Apfelmus bestand. Dadurch verlor sie auch deutlich an Gewicht. Ihre Darmprobleme gingen tageweise mit Fatigue einher und waren zum Teil so extrem, dass sie es manchmal kaum schaffte, die Treppen zu ihrer Wohnung zu bewältigen.
Schließlich verbesserte sich ihr Allgemeinzustand. Jetzt, im Oktober 2016, hat sie Blut in ihrem Urin entdeckt. In den 13 darauffolgenden Monaten lässt die Frau zahlreiche Untersuchungen durchführen, um die Ursache zu finden.
Die Ärzte können keinen plausiblen Grund ausfindig machen. „Vielleicht sind Sie einfach jemand, der nun einmal Blut im Urin hat“, sagt ein Urologe nach einjährigem Bestehen des Symptoms zu ihr. Als sie das erste Mal Blut in ihrem Urin bemerkt, wundert sich die Patientin darüber. „Ich hab doch gar keine Rote Bete gegessen“, denkt sie. Schließlich kann der Verzehr der Rübe zu temporären Verfärbung von Urin führen. Schmerzen oder andere Symptome hat sie zu dem Zeitpunkt nicht. Auch chronische Harnwegsinfektionen, die in einer Hämaturie resultieren können, hatte sie noch nie.
Am nächsten Tag ist kein Blut mehr im Urin sichtbar. Eine Harnanalyse bestätigt aber das Vorhandensein von roten Blutkörperchen und Proteinen. Unter Proteinurie versteht man die Ausscheidung von Eiweiß im Urin. Eine geringe Ausscheidung von Protein ist natürlich, sobald sie leicht erhöht ist, kann das unterschiedliche Ursachen haben, unter anderem Niereninsuffizienz oder Diabetes Mellitus. Die Frau weist keine der üblichen damit im Zusammenhang stehenden Krankheitsbilder auf.
Ihr Hausarzt ordert eine Computertomographie ihres Abdomens und des Beckens an und überweist sie an einen Urologen. Der CT-Scan zeigt zwei winzige nicht verengte Nierensteine, deren Lage unproblematisch ist. Der Radiologe notiert außerdem eine Atrophie im oberen Teil ihrer linken Niere, der seiner Ansicht nach höchstwahrscheinlich eine chronische Verletzung darstellt.
Der Urologe führt eine Zystoskopie durch, dessen Ergebnis normal ausfällt. Als ärztliche Empfehlung erhält die Patientin den Rat, mehr Flüssigkeit zu trinken. Das könne dabei helfen, eine Nierensteinkolik von vornherein abzuwenden.
Das Blut im Urin kehrt allerdings zurück. Die Patientin konsultiert einen weiteren Urologen, der sie an einen Nierenspezialisten verweist. Der Nephrologe vermutet, dass die Zwischenblutungen durch eine IgA-Nephritis ausgelöst werden könnten. Bei dieser Erkrankung, die auch Morbus Berger genannt wird, handelt es sich um die häufigste Form der Glomerulonephritis. Es kommt zu entzündlichen Veränderungen der Nierenkörperchen, deren Ursache medizinisch ungeklärt ist.
Ein vom Nephrologen empfohlenes kontinuierliches Monitoring zeigt: Die Nieren funktionieren normal. Von einer Nierenbiopsie sieht er ab. Im Mai 2017 entscheidet sich die Frau dazu, einen weiteren Nephrologen um Rat zu bitten. Zu diesem Zeitpunkt treten die Blutungen beinahe täglich auf. Der Facharzt setzt eine Nadelbiopsie für den nächsten Monat an. Durch den Test kann eine IgA-Nephritis ausgeschlossen werden. Es lassen sich keine Hinweise finden, die ihre wiederkehrenden Blutungen erklären könnten.
Die 45-Jährige lässt nicht locker. Ihr Urin ist an manchen Tagen leuchtend rot. Sie stößt auf eine Klinik, die für ihre neprhologische Abteilung bekannt ist. Im Juli verbringt sie dort vier Tage am Stück und lässt sich umfassend untersuchen. Ein Pathologe sieht sich nochmal den CT-Scan an, der vor neun Monaten gemacht wurde, führt aber keinen weiteren durch.
Alle Ärzte, die bis zu diesem Zeitpunkt in den Patientenfall involviert waren, gelangen zum selben Fazit: Für das Blut im Urin der Frau lässt sich keine Erklärung ausfindig machen. In den nächsten Monaten konzentriert sich die Patientin auf ihre Magenprobleme, die nun wieder vermehrt auftreten. Sie sind den Ärzten zufolge auf eine kleine bakterielle Überbesiedlung im Darm zurückzuführen.
Die Patientin konsultiert aufgrund der Verdauungsbeschwerden ihren Hausarzt, der sie aus Ratlosigkeit an einen Familienmediziner verweist. Erneut bittet sie ihren zweiten Urologen um eine CT, weil sich die Blutungen verstärken, manchmal sogar klumpig sind. Erst hält der Arzt nichts von einem erneuten Versuch, willigt dann aber ein und ordert eine Untersuchung in Hinsicht auf arteriovenöse Missbildungen an.
Das Ergebnis bringt etwas anderes zum Vorschein: Auf der linken Niere der Frau befindet sich eine traubengroße Anhäufung. Genau dort, wo vor 13 Monaten eine Atrophie erkannt worden war. Ihr Urologe überweist die Patientin an einen chirurgischen Onkologen. Schließlich erhält sie eine Diagnose: Es handelt sich um einen 2,5 Centimeter großen Tumor, der bösartig sein könnte.
Im Dezember entfernt ein Chirurg die Stelle, er beschreibt sie als etwas, das er in dieser Form noch nicht gesehen hat. Aufgrund der ungewöhnlichen Entdeckung, werden die pathologischen Proben in ein Labor geschickt. Die Analyse ergibt: Die Frau leidet an einem seltenen und hoch aggressivem sarkomatoiden Nierenzellkarzinom. Männer sind etwa zweimal häufiger von Nierenzellkarzinomen betroffen als Frauen. Der Erkrankungsgipfel liegt zwischen dem 45. und 75. Lebensjahr.
Die Pathologen können nicht eruieren, ob die Krebserkrankung in der Niere, in der Blase oder im Harnleiter entstanden war. Bei einer ihrer Tanten war mit 53 Jahren ein seltenes Sarkom diagnostiziert worden. Eine andere starb einen Monat, nachdem man bei ihr Darmkrebs diagnostiziert hatte.
Die zu diesem Zeitpunkt involvierten Ärzte werfen nochmals einen Blick auf den CT-Scan aus dem Jahr 2016, um zu prüfen, ob der Tumor damals übersehen wurde. Darin ist aber nichts zu erkennen. „Ich denke, die Untersuchung wurde in einem so frühen Stadium der Erkrankung gemacht, dass man sie nicht sehen konnte“, vermutet der Familienmediziner.
Der pathologische Bericht bringt immerhin zum Teil positive Nachrichten: Der Tumor ist klein und scheint sich auf die linke Niere zu beschränken. Für gewöhnlich sind die meisten sarkomatoiden Nierenzellkarzinome größer und haben bereits großflächig metastasiert, wenn sie entdeckt werden. Eine Positronenemissionstomographie (PET) zeigt kein Zeichen einer Metastasierung.
Drei und sechs Monate nach dem Eingriff führen die Ärzte bei der Patientin erneut CT-Scans durch. In dieser Zeit lässt sich die Frau auf genetische Mutationen testen, um die optimale Behandlung zu finden. Im August 2018 erhält sie eine standardisierte First-line-Behandlung – erneut ein chirurgischer Eingriff. Von Maßnahmen wie einer anschließenden Chemotherapie oder Immuntherapie, die Rezidive verhindern sollen, rät der behandelnde Onkologe ab, dafür sei bereits zu viel Zeit vergangen. „Zu diesem Zeitpunkt glauben wir, dass die Risiken einer Behandlung die potenziellen Vorteile überwiegen“, so sein Fazit.
Textquelle: Washington Post Bildquelle: Engin_Akyurt