ASS eignet sich nicht für die Primärprävention gesunder Patienten – das wurde 2018 durch drei Studien belegt. Eine aktuelle Untersuchung zeigt, wie viele Patienten trotzdem bei der täglichen Einnahme des „Herzschutzes“ bleiben. Das ist besorgniserregend.
Es gibt wohl kein traditionsreicheres Medikament als unser gutes altes Aspirin®. Ursprünglich als wirksame Kopfschmerztablette gefeiert, erschloss es sich schnell weitere breitflächige Einsatzgebiete. Vor allem in der Prävention kardiovaskulärer Ereignisse feierte die Acetylsalicylsäure infolge ihrer potenten Blutplättchenhemmung Erfolge. Über die Jahre wurden ASS immer mehr vermeintlich gesundheitsförderliche Wirkungen nachgesagt. Da wäre zum Beispiel die breitflächige Verwendung in einer Poly-Pill für die Generation 50+ in Schwellenländern mit suboptimaler Gesundheitsfürsorge. Und es hätte wohl nicht mehr lange gedauert, bis man öffentlich über eine Beimengung in unserem Trinkwasser diskutiert hätte.
Während die Verwendung der Acetylsalicylsäure in der Sekundärprävention kardiovaskulärer Ereignisse weiterhin gesetzt bleibt und einen klaren Benefit für betroffene Patienten nach Herzinfarkt oder Schlaganfall zeigt, bröckelt aber die Evidenzlage für einen möglichen Nettonutzen in der Primärprävention gefäßgesunder Menschen.
2018 wurden zu dieser Fragestellung drei Blockbuster-Studien publiziert, die Klarheit in die unklare Studienlage bringen sollten. Los ging es mit der ARRIVE-Studie, die Kohorte umfasste über 12.000 gesunden Männern und Frauen mit Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die männlichenTeilnehmer waren über 55 Jahre alt, die Frauen über 60. Nach einer mittleren Beobachtungsdauer von 5 Jahren konnte gegenüber Placebo in Bezug auf die Verhinderung von Komplikationen wie Herzinfarkten oder Schlaganfällen kein relevanter Nutzen nachgewiesen werden. Wohl aber kam es vermehrt Blutungen, insbesondere im Magen-Darm-Trakt.
Würden denn wenigstens Risikopatienten wie Diabetiker vom ASS profitieren? Dieser Frage ist die ASCEND-Studie im selben Jahr nachgegangen. Mehr als 15.000 Diabetiker ohne Herz-Kreislauf-Vorerkrankungen wurden im Mittel über 7,4 Jahre mit ASS oder Placebo behandelt. Und immerhin: In diesem Risikokollektiv reduzierten sich kardiovaskuläre Ereignisse wie Herzinfarkte und Schlaganfälle tatsächlich von 9,6 % in der Placebo- auf 8,5 % in der ASS-Gruppe. Das aber wiederum um den Preis vermehrter, schwerer Blutungen, meist im Magen-Darm-Trakt.
Und wie steht es schließlich mit dem brutalsten aller Risikofaktoren, dem Alter? Hat ASS wenigstens für alte Menschen einen Nettonutzen? Diese Frage untersuchte die ASPREE-Studie. Und siehe da: An über 19.000 Menschen im Alter ab 70 Jahren konnten 100 mg ASS keinen Nutzen belegen! Die Studie wurde nach knapp fünf Jahren abgebrochen, da ASS weder Herzinfarkte oder Schlaganfälle noch die Gesamtsterblichkeit relevant reduzierte konnte, aber zu gehäuften schwerwiegenden Blutungen führte.
Als Reaktion auf diese erschütternden Studienergebnisse haben die American Heart Association und das American College of Cardiology kürzlich bereits ihre Guidelines angepasst und sich klar gegen die routinemässige Einnahme von ASS bei Menschen über 70 Jahren ohne begleitende Herz-Kreislauf-Erkrankungen ausgesprochen.
Doch zumindest in der breiten US-amerikanischen Bevölkerung, die sich ASS gerne auch mal beim wöchentlichen Walmart-Einkauf für wenig Geld in großen Kanistern in den Einkaufswagen legt, scheint diese Empfehlung noch nicht ganz angekommen zu sein. Israelische Wissenschaftler haben letzte Woche eine Untersuchung in den Annals of Internal Medicine publiziert, die dokumentiert, wie verbreitet die unkritische Einnahme von ASS in der Primärprävention kardiovaskulärer Erkrankungen unter US-Amerikanern ist.
Als Datenbasis diente dem Forscherteam der National Health Interview Survey (NHIS) von 2017 eine repräsentative Untersuchung von US-Haushalten. Etwa ein Viertel der Erwachsenen jenseits des 40. Lebensjahres ohne bekannte Herz-Kreislauf-Erkrankungen, schätzungsweise 29 Millionen Menschen, gaben hierbei an, ASS täglich als „Herzschutz“ einzunehmen. Immerhin mehr als jeder fünfte davon ohne ärztliche Empfehlung.
Besonders besorgniserregend: Fast die Hälfte der über 70-jährigen Befragten ohne bekannte Herzinfarkt- oder Schlaganfallanamnese (geschätzte 10 Millionen Menschen) gab an, täglich ASS einzunehmen, obwohl dies in klarem Widerspruch zu den aktualisierten Leitlinienempfehlungen steht. Daran änderte selbst eine vorbekannte Ulkusanamnese nichts, die natürlich eine klare Kontraindikation für eine routinemäßige primärpräventive ASS-Einnahme ist und, nach den vorliegenden Befragungsdaten, nicht zu einer Einschränkung des ASS-Gebrauchs geführt hatte.
Inwieweit diese amerikanischen Daten auf unsere europäischen Verhältnisse zu übertragen sind, bleibt Spekulation. Aber natürlich sehen auch wir jeden Tag Patienten, deren bereits übervoller Medikamentenplan noch zusätzlich durch nicht klar indiziertes ASS „bereichert“ wird.
Hier lohnt sich dann bei aller Zeitknappheit doch einmal wieder eine ordentliche Anamnese, um individuell am und vor allem mit dem Patienten, nach Abwägen der individuellen Situation, über die Fortführung oder eben ein Absetzen der ASS-Behandlung entscheiden zu können.
Ich persönlich fühle mich aufgrund der aktuellen Studienlage bestärkt, bei den meisten meiner Patienten ohne Herz-Kreislauf-Erkrankung auf das primärpräventive ASS als „Blutgefäßschutz“ zu verzichten und dafür lieber vermehrt auf Lebensstilmaßnahmen, wie ausreichend Bewegung, eine kluge Ernährung und gutes Stressmanagement, zu setzen.
Allein durch regelmäßige sportliche Aktivität können wir bekanntermaßen das Risiko für einen erneuten Herzinfarkt halbieren, das schafft so schnell kein Medikament – und das auch noch ohne gefürchtete Nebenwirkungen wie die gefährliche Blutungen. Und über die neugewonnene Übersichtlichkeit in der Medikamentenbox hat sich bisher auch noch keiner meiner Patienten beschwert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Hand aufs Herz: Wie halten Sie es mit dem ASS, setzen Sie es ohne eindeutige Indikation konsequent ab oder lassen Sie es hier und da bei langjährig eingestellten Patienten weiterlaufen?
Ich bin gespannt, wie sich die Studienlage weiterentwickelt, bestimmt ist das ASS noch für die eine oder andere Überraschung gut. Bis dahin gilt: Primum nihil nocere.
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