Kinder, die viel Zeit am Handy und vor dem Fernseher verbringen, haben ein höheres Risiko, eine Depression zu entwickeln. Eine neue Studie zeigt: Der Grund ist weniger offensichtlich, als man denkt.
Wer viel Zeit am Handy verbringt, hat weniger Zeit für anderes, vor allem für andere Menschen, wird vereinsamen, wird depressiv. Diese Argumentation liegt nahe. Eine neue Studie aus Montreal stützt die These.
Das Fachjournal JAMA veröffentlichte kürzlich eine Studie, in der über 3.800 Heranwachsende im Durchschnittsalter von 12 Jahren (7. Klasse) aus 31 Schulen rund um Montreal untersucht wurden. Erfragt wurden Frühsymptome von psychischen Befindlichkeiten, Variablen waren die Nutzung von sozialen Medien, Computergebrauch im Allgemeinen, Gaming und Fernsehen. Die Untersuchung fand von 2012 bis 2018 statt, die Jugendlichen wurden jährlich über vier Jahre befragt und die Daten nun veröffentlicht.
Während die Gesamtdauer vor dem Bildschirm wohl keinen signifikanten Einfluss auf die psychische Befindlichkeit zeigte, sollten jedoch die verschiedenen Beschäftigungen unterschieden werden: So sind die Nutzung von sozialen Medien und das Vertiefen in Streamingdienste wie Netflix oder Amazon Prime Video mit einem erhöhten Risiko der Ausbildung von Depressionen assoziiert.
Dies erkläre sich nicht durch Vemeidungsverhalten („displacement hypothesis“), dass also die Jugendlichen keinen sozialen Kontakt im realen Leben mehr erfahren, sondern durch einen sogenannten sozialen Aufwärtsvergleich („upward social comparison“), indem die User sich mehr und mehr mit virtuellen Freunden vergleichen und diesem Vergleich oft nicht standhalten. Wer früher ohne Internetzugang vielleicht eine oder zwei „Überfiguren“ im gleichen Alter zum Vergleichen hatte, findet nun hunderte, die sich gut verkaufen können. Wer dies nicht kann, erlebt Frustration, vermindertes Selbstwertgefühl. Die Depression droht.
Eine einsetzende Depression führe dann zu Vereinsamung, Isolation und bringe damit eine Abwärtsspirale in Gang („reinforcing spirals hypothesis“). Die Autoren merken gerechterweise an, dass Längsschnittstudien über lange Jahre fehlen, das Outcome fürs Erwachsenenalter ist nicht untersucht.
Ich denke, hier sollte man zunächst ansetzen: Wir wissen doch gar nicht, wie es später weitergeht. Depressionen sind ein multifaktorielles Geschehen, es gibt eine familiäre Komponente, es gibt oft Auslösermomente (Unfälle, chronische Krankheiten, Tod eines Familienmitgliedes, Umzug und damit eine Änderung der Lebensbedingungen) und das Outcome ist beeinflusst durch die so genannte Resilienz, also die Fähigkeit, mit Schicksalsschlägen umgehen zu können. Das Abhängen in sozialen Netzwerken ist nur einer von vielen Faktoren, die das psychische Befinden steuern.
Dennoch bietet die Studie eine interessante Hypothese. Jugendliche suchen sich stets ihre Peergroup, der sie sich zugehörig fühlen, in der sie bestenfalls anerkannt sind. Ihr Aussehen, Verhalten, ihr Musikgeschmack orientiert sich vor allem daran, sich von anderen Gruppen abzugrenzen. Vor zehn oder fünfzehn Jahren fand dies nur im Analogen statt. In jeder Klassen- oder Altersgruppe gab es ein oder zwei Hippe, die Leader, denen man nacheifern und sich glücklich schätzen konnte, wenn sie einen nur ansahen. Nun ist es anders.
Mögen Whatsapp-Gruppen noch recht lokal organisiert sein, bewegen sich die Jugendlichen via Instagram, Facebook oder Snapchat nun in den Weiten des Netzes. Aus den zwei Stars sind hunderte geworden, die sich gut verkaufen können. Dies erhöht den Druck auf das Ego. Erreichst du keine Klickzahlen, bist du nicht anerkannt. Der soziale Vergleich ist unüberschaubar geworden, die Frustrationsgrenze enorm gesunken. Die Gruppe, mit der man sich messen muss, ist riesig geworden. Durch die vielen vermeintlichen Vergleichsfiguren im Netz entsteht ein Durchschnittsmensch, den der einzelne gar nicht mehr erreichen kann.
Einer anderen Umfrage aus Großbritannien zufolge verspüren 60 Prozent der Jugendlichen einen großen Druck durch soziale Medien. Laut Untersuchung ist das „Glückslevel“ der heutigen Generation deutlich gesunken.
Natürlich muss hier die Lösung liegen: Die Realität wieder herzustellen, die Verhältnisse wieder gerade rücken, Erfolge im Analogen zu suchen: im Sport, in der Musik, im haptisch Kreativen. Und vielleicht muss sich auch in der virtuelle Welt etwas ändern. Der Versuch, Hassbotschaften im Netz anzuzeigen und zu reglementieren, ist ein Schritt in die richtigen Richtung. Denn auch persönlich diffamierende Äußerungen im Netz werden vom Empfänger so gewertet, als spreche ein Gegenüber aus dem realen Leben, dabei ist es vielleicht nur ein Fake-Account, ein Troll.
Bildquelle: Diego Passadori, Unsplash