Mich beschäftigt das unermüdliche Bestreben der modernen Medizin, in Zukunft die Krankheiten des Alters zu besiegen, den körperlichen und seelischen Verfall zu verlangsamen und das schlussendlich Unweigerliche hinauszuzögern. Derzeit haben wir nur die Möglichkeit, Prognosen zu stellen. Es geht Monate, vielleicht Jahre, meist nicht unbeschwert, aber immerhin gut genug, um noch wenige, letzte glückselige Momente auszuhandeln, bevor die Reise ins Ungewisse beginnt. Dieses Wissen ist für Betroffene und Angehörige ein Segen.
Was wäre aber, wenn wir in einigen Jahren, vielleicht in ein paar Jahrzehnten plötzlich den Schlüssel in der Hand hielten? Was, wenn Forscher den Traum von einem ewigen Leben nach dem Tod, dem unendlichen Leben in einem Paradies auf das Hier und Jetzt verschieben könnten?
Was wie Science-Fiction klingt, hat mit den „Immortalists“, einer elitären Bewegung im Silicon Valley, schon längst ein einflussreiches Kollektiv gefunden. Paul Graham Raven beschreibt in seiner Veröffentlichung „The immortalist cults of Silicon Valley“ wie ihre Anhänger denken, dass es lediglich eine Frage der Zeit und der finanziellen Mittel sei, dieses existenzielle Mysterium ein für alle Mal zu lösen.
Sollte dieser „Schlüssel“ zu Pandoras Büchse wirklich eines Tages einen Nutzen finden oder öffnet er womöglich die Tore zur menschengeschaffenen Hölle auf Erden?
Grundsätzlich klingt es erst einmal nach der Erfüllung des Menschen größter Sehnsucht – der Unvergänglichkeit. Kein chronisches Leiden kann uns dahinraffen, Zeit heilt schließlich alle Wunden, gar jede Wunde, wenn die Zeit eigentlich keine Rolle mehr spielt. Kinder wachsen selbstverständlich mit ihren Urgroßeltern auf, sind umsorgt durch ein Netz aus lebenserfahrenen, vitalen Kümmerern, die vor Liebe und Leben nur so strotzen.
Ob nun durch eine Art Organ- und Zellwerkstatt, wo kaputte Teile einfach ausgetauscht werden, durch Nanotechnologie, die unseren Körper stetig überwacht und wiederherstellt, oder durch gezielte Genmanipulation, die das Resultat, die neue Spitze der Evolution, quasi unsterblich macht, setzt diese Errungenschaft dem Tod durch Alterung ein Ende – sie markiert ultimativ den Ursprung für eine neue Zeitrechnung.
Diejenige Zeit, in der es nicht mehr heißt „Lebe jeden Tag, als wäre er dein letzter“, sondern „Bestimme selbst, wann dein letzter Tag gekommen ist“.
Allerdings wäre dies wahrscheinlich auch eine Epoche großer Ungerechtigkeit, eine Epoche, in der die Unterprivilegierten schließlich den höchsten aller Preise zahlen: Sie würden mitanschauen müssen, wie dieses Wunder der Wissenschaft denjenigen vorbehalten bliebe, die die Macht, den Einfluss und das Geld hätten, Unsterblichkeit zu erwerben. In der heutigen Welt, geprägt von Kapitalismus und Besitztum, wäre ein solches Verhalten denkbar.
Gehen wir aber einmal davon aus, die Gesellschaften des Erdenrunds würden sich ändern, Altruismus stünde über Egoismus – das Wunder wäre für alle zugänglich. Jedem Menschen wäre das Geschenk gegeben, auf ewig Teil eines niemals endenden Zyklus von neuem Leben zu sein. Viel mehr noch – jeder könnte sich früher oder später etwas aufbauen, Generationen aufwachsen sehen und sich ihrer erfreuen. In der Tat hätte diese Wunschvorstellung selbst in der moralisch besten Variante bereits früh ein jähes Ende.
Sprich, die Grundfesten der Natur, die diese Utopie zurück zu den Tatsachen entführt: Jeden Tag sterben heute ca. 150.000 Menschen, das macht im Jahr etwa 50 Millionen, die doppelte Anzahl wird jedes Jahr neu geboren – innerhalb weniger Jahrzehnte hätte unser Planet seine theoretische, ökologische Tragbarkeit von 10 bis 15 Milliarden Einwohnern massiv überschritten – überall gäbe es Wasser- und Lebensmittelknappheit, die natürlichen Ressourcen wären vollends erschöpft, die Konsequenzen gigantisch, zu allem Überdruss würde sich die Menschheit gegenseitig abschaffen und ein Krieg würde all das vernichten, wofür die Ideale der Forscher einst standen.
Diese Dystopie mag dem einem oder anderen zu extrem erscheinen, überspitzt und sinnlos dramatisch, aber ehrlich, ist sie das wirklich angesichts des rasanten Fortschrittes und der heute schon bestehenden Disparitäten?
Nun könnte man berechtigt fragen, was in aller Welt hat das mit Medizin zu tun? Ich will aufzeigen, dass die Suche nach einem Jungbrunnen, einer Unsterblichkeitsformel nicht der richtige Ansatz ist: Ewiges Leben mündet nur in endgültigem Ruin. Stattdessen bleiben wir doch lieber beim Tagesgeschäft: (Gesundheitliche) Unbeschwertheit für ein reichhaltiges Leben möglichst lange erhalten, frei nach den Worten Oscar Wildes „Leben, das ist das Allerseltenste in der Welt – die meisten Menschen existieren nur.“
Denn prolongierte Existenz allein ist nicht das, was zählt, sondern die Spuren, Erinnerungen und Taten, die wir hinterlassen, wenn wir aus diesem Leben gehen. Dinge, die wir am besten im Vollbesitz von geistigen und körperlichen Fähigkeiten erreichen. Schließlich sollte das unser Ziel für die Medizin sein, ein Traum, der schon heute wahr werden kann und überall da auf der Welt wahr werden sollte, wo er noch in weiter Ferne liegt.
Dafür können, sollten und müssen wir uns einsetzen. Im großen Ganzen in Politik und Forschung, aber auch am Patienten durch den Spaß an der Berufung und durch den Rat eines guten Herzens, durch weniger Vorurteile und mehr Selbstreflexion.
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