Die Patientin ist 100 Jahre alt. Sie ist taub, spricht nicht und leidet an Demenz. Jetzt liegt sie hier und soll auf eine OP vorbereitet werden.
Ein Beitrag von Nadia Tot, Auszubildende zur Operationstechnischen Assistentin. Sie hat bei unserem Wettbewerb Meddy Awards 2019 mit diesem Beitrag den ersten Platz in der Kategorie „Hochdosiert“ gewonnen.
Aufnahme: Patientin mit Beschwerden, dement, 100 Jahre alt, der Betreuer hat zugestimmt. Hundert? Die Patientin gehört nicht mehr auf einen OP-Tisch.
„Warum machen wir diese Untersuchung? Wir jagen der Dame doch total viel Angst ein.”
„Anweisung vom Chef”
Widerstand zwecklos. Begründet oder unbegründet?
„Können Sie mich verstehen? Ich schließe kurz die Infusion an, die Röntgenröhren fahren mal näher an Sie heran.”
Sie versteht mich nicht. Oder will sie nicht verstehen?
„Bitte bleiben Sie gerade liegen”
Sie dreht sich auf die Seite, weil sie nicht mehr auf dem Rücken liegen kann. Schmerzen.
„Können Sie ihre Hände neben ihren Körper legen, sonst sind die ständig im Röntgenbild”. Ich halte ihre Hand, sie lässt nicht los.
Weswegen die Intervention? Um die Lebensqualität zu verbessern?
Oder doch eher, weil das Geld in den Koronarien dieser alten Dame steckt?
Erst werden der Ballon, dann der Stent platziert.
Gewinn: Lebensjahre.
Lebensjahre, die sie durch die Demenz wahrscheinlich schon längst verloren hat.
Was sind Lebensjahre wert, wenn man sich in ihnen widerwillig durch Therapien kämpft? Intervention beendet, Übergabe an Station.
„Es bringt nichts, mit ihr zur reden. Die Frau ist taub, stumm und spricht kein Deutsch.” Meine Kollegen haben sich ihr Urteil schon gebildet.
Sie hält meine Hand und lässt nicht los.
Warum quält man sie noch? Ist der Nutzen wirklich größer als die Nachteile und Schmerzen?
OPs bringen Geld.
Sie hält meine Hand – fest.
„Ich verstehe sie.”
Ich sehe, sie hat Angst. Und bleibe.
Bildquelle: valelopardo, pixabay