Für die einen ist es Zerstörung, für die anderen eine längst überfällige Maßnahme: Die drastische Schließung von Akutkrankenhäusern, wie es die Bertelsmann-Stiftung in ihrer Studie fordert. Wer hat in diesem Streit Recht?
„Wald- und Wiesenkrankenhäuser sind eine Gefahr für den Patienten“, ist ein DocCheck User überzeugt. Ganz anders sieht es die Deutsche Stiftung Patientenschutz. Über die Hälfte der Krankenhäuser zu schließen, ist in ihren Augen „kein Konzept, sondern Kahlschlag“. Es geht um die kürzlich veröffentlichte Studie der Bertelsmann-Stiftung. Darin wurde eine radikale Forderung gestellt: Mehr als jedes zweite Akutkrankenhaus in Deutschland soll schließen, um die Qualität der Patientenversorgung zu verbessern.
Es soll weniger Kliniken, dafür aber größere Standorte geben, die technisch und personell besser ausgestattet sind. Diese These sorgt für heftigen Streit bei Mitarbeitern und Verantwortlichen der deutschen Krankenhauslandschaft – und in der DocCheck Community.
Endergebnis der Abstimmung auf Twitter. Ein Drittel der Teilnehmer findet, dass es zu viele Kliniken gibt, zwei Drittel nicht.
Wie kann es sein, dass die einen von der „Zerstörung sozialer Infrastruktur“ sprechen, während andere es für eine längst überfällige Maßnahme halten?
Wer die seit letztem Montag laufende Diskussion verfolgt, bemerkt: Das Thema sorgt für Aufregung und Emotionen. Seit Tagen gehen Stellungnahmen verschiedener medizinischer Fachgesellschaften zur umstrittenen Studie online. Politiker und beteiligte Wissenschaftler verteidigen ihre Argumente in Interviews, die DocCheck User liefern sich in den Kommentaren unter unserem Artikel „Friedhof der Kliniken“ einen verbalen Schlagabtausch.
„Wer vorschlägt von ca. 1.600 Akutkrankenhäusern 1.000 platt zu machen und die verbleibenden 600 Kliniken zu Großkliniken auszubauen, propagiert die Zerstörung von sozialer Infrastruktur in einem geradezu abenteuerlichen Ausmaß, ohne die medizinische Versorgung zu verbessern.“
Dr. Gerald Gaß, Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG)
So kritisch positioniert sich die DKG in einer Pressemitteilung mit dem Titel „Kahlschlag in der Gesundheitsversorgung“. Die Einschätzung der Bertelsmann-Stiftung, dass die medizinische Versorgungsqualität nur in Großkrankenhäusern verbessert werden kann, hält Gaß für „absolut unbelegt“. Seit Jahren würde die Qualität der medizinischen Versorgung anhand zahlreicher Indikatoren gemessen. Auf inneren Abteilungen ist das zum Beispiel die Behandlung von Lungenentzündungen, auf gynäkologischen Abteilungen die Abwicklung von Geburten.
„Mit wenigen Ausnahmen bestätigt der Gemeinsame Bundesausschuss Jahr für Jahr allen beteiligten Kliniken ein hohes Qualitätsniveau. Wo einzelne Kliniken Qualitätsdefizite haben, finden Interventionen statt“, sagt Gaß.
Die DKG ist sich mit vielen anderen Kritikern einig: Der Großteil des stationären medizinischen Versorgungsbedarfes braucht außerdem keine Spezialisierung.
„An der Uni ist man mit Sicherheit gut aufgehoben, wenn man ein komplizierter Fall ist – aber warum sollte jeder Patient an ein Haus der Maximalversorgung müssen“, kommentiert eine Userin. Sie war an einer Uniklinik beschäftigt, hat sich dann aber bewusst für die Arbeit in einem Kreiskrankenhaus entschieden. „Die Uni bei uns ist überlastet, die Patienten sitzen stundenlang in der ZNA und die meisten Kollegen haben gar keine Zeit, sich um ‚Bagatellfälle‘ zu kümmern.“ Für sie ist es kein Defizit, dass kleine Häuser nicht alles leisten können:
„Großes Haus – komplizierte Fälle. Kleines Haus – weniger komplexe Fälle. Ich finde, das ergänzt sich.“
Mitarbeiterin einer kleinen Klinik auf DocCheck
Gegner des Vorschlags betonen vor allem, dass nicht diejenigen vergessen werden dürfen, die heute schon mehr als 60 Prozent der Krankenhauspatienten ausmachen: Alte, Pflegebedürftige und chronisch Kranke. Es gehe nicht immer nur um komplizierte Operationen mit Maximalversorgung, schreibt die Deutsche Stiftung Patientenschutz in einer Stellungnahme. Vielmehr müsse dafür gesorgt werden, dass auch die Patienten gut behandelt werden, die keine Maximaltherapie benötigen. Der Vorschlag sei kein Konzept, sondern verheerend für die Menschen, heißt es.
Ein User, der Hausarzt ist, argumentiert in eine ähnliche Richtung:
„In Großkliniken ist z.B. eine 85-Jährige mit Schlaganfall oft nicht gut versorgt, weil sie kein ‚spannender‘ Fall ist. (...) Da ist schon mancher unbemerkt auf irgendeinem Gang verstorben.“
Hausarzt auf DocCheck
Ein weiterer Aspekt, der scharf kritisiert wird, sind die sich verlängernden Anfahrtswege. Wenn kleinere Häuser schließen und sich das freiwerdende Personal an die Häuser der maximalen Versorgung anbinden soll, erhöht das deren Arbeitswege massiv, wie ein Rettungsassistent an einer großen Klinik in den DocCheck-Kommentaren schreibt. Auch der Rettungsdienst werde vor ungeahnte Probleme gestellt.
„Die Anfahrtswege werden länger, Rettungsmittel erheblich länger blockiert. Es zieht einen riesigen Rattenschwanz nach sich.“
Rettungsassistent einer großen Klinik auf DocCheck
Die Gruppe der Kritiker ist groß. Aber gänzlich überzeugen können sie mit ihren Argumenten nicht. Nach und nach äußern sich einige Fachgesellschaften aufgeschlossen dem Vorschlag gegenüber. Die Deutsche Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN) hält es besonders in Ballungsräumen für „dringend notwendig“ Krankenhäuser zu zentrieren. Vor allem wegen des Personalmangels.
„Kliniken stehen zunehmend im Wettbewerb um die ärztlichen und pflegerischen Fachkräfte. Die Zentrierung in Bereichen mit hoher Krankenhausdichte (...) könnte Abhilfe schaffen.“
Dr. Christian Karagiannidis, Präsident der DGIIN
Auch der Berufsverband der Pflegeberufe ist der Meinung, dass ein grundlegendes Umdenken nötig ist: Es gebe einen Überhang von Krankenhausbetten, der zügig und koordiniert vom Netz müsse.
Eines der Hauptargumente der Befürworter ist: Viele Patienten werden in kleinen Krankenhäusern nicht optimal behandelt.
„Ein Patient, der mit einem Herzinfarkt in ein wohnortnahes Krankenhaus geht, tappt in die Falle.“
Andreas H., Assistenzarzt an einer mittelgroßen Klinik auf dem Land
Im Interview mit DocCheck positioniert sich Andreas H.* deutlich, möchte aber anonym bleiben. „Wenn er da nicht kathetert werden kann, wird er per Rettungswagen in ein größeres Krankenhaus verlegt, das bringt ihm zeitlich gar nichts.“
Kleine Krankenhäuser haben in der Regel weniger Personal und geringere Ressourcen. Das betrifft nicht nur die Geräte für spezielle Untersuchungen, sondern auch die Möglichkeit, sich von Fachkollegen fundierte Meinungen einzuholen. „Wir haben zum Beispiel keine Neurologie. Wenn jemand einen Schlaganfall hat, wird er weiterverlegt. Das kostet Zeit“, sagt Andreas H.
Ist man sich in einer kleinen Klinik bei der Diagnose unsicher, wird der Patient erst mal internistisch aufgenommen und unter Umständen suboptimal behandelt. Man kann nicht mal eben den Neurologen im Haus anrufen und nach seiner Meinung fragen, sagt der Assistenzarzt. Das kann für den Patienten gefährlich werden.
Zu viele Klinikbetten seien auch der Grund für dafür, dass es nicht nur zu wenig, sondern auch zu schlecht ausgebildetes Personal in Kliniken gebe, kommentiert ein Arzt auf DocCheck. Nach der Schließung der Hälfte der Krankenhäuser bliebe mehr Personal zur Verfügung. Bei Schwangerschaften, Krankheiten und Urlaub wäre Ersatz da.
Der Gesundheitsexperte Boris Augurzky war an der wissenschaftlichen Ausarbeitung der Studie beteiligt. Er verteidigt den Vorschlag auch aus finanzieller Perspektive. „Im Laufe der kommenden 20er Jahre werden allmählich die finanziellen Ressourcen zur Finanzierung unserer recht dezentralen Krankenhausstruktur knapp, weil wir schrittweise die großen Kohorten der Babyboomer als potente Beitragszahler für die Sozialversicherungen verlieren“, erklärt er in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau. Noch gravierender werde sich die Knappheit an Nachwuchskräften auswirken, wenn immer mehr Rentner den Arbeitsmarkt verlassen, gleichzeitig aber immer weniger in den Arbeitsmarkt eintreten. Den ärztlichen Nachwuchs ziehe es zudem stärker in die Zentren.
Für Augurzky kommt die Zentrierung von größeren Klinikstandorten den allgemeinen Entwicklungen in der Medizin entgegen:
„Je stärker sich die Medizin spezialisiert, desto mehr lässt sie sich vollumfänglich nur noch in größeren Zentren abdecken.“
Boris Augurzky, Beteiligter Wissenschaftler an der Bertelsmann-Studie
Und je mehr ambulant erbracht werden könne, desto weniger stationäre Kapazitäten bräuchte es. Meist ist es auch nur in größeren Häusern möglich, die in Zukunft immer wichtiger werdende Digitalisierung der Medizin voranzutreiben.
Radikales Schließen jeder zweiten Klinik? Oder besser alles so belassen wie es ist? Die Wahrheit liegt vermutlich irgendwo in der Mitte. Die Studie hat gezeigt, dass eine Überversorgung in Ballungsregionen und eine Unterversorgung in ländlichen Gebieten existiert. Der kurze Weg zur nächsten Klinik bringt nichts, wenn der Patient in einer lebensbedrohlichen Lage ist, dann vor Ort aber nicht den passenden Spezialisten antrifft.
Ohne Zweifel wird sich an der Anzahl und Organisation der Kliniken in Deutschland etwas ändern müssen, auch wenn das nicht die populärste Lösung ist. In einer Großklinik hat man alles an Ort und Stelle, Spezialisten für jedes medizinische Problem. Das würde die Versorgung verbessern – zumindest theoretisch. Ob dann in der Realität alles besser läuft, ist fraglich. Wenn die Abteilungen überlastet sind, müssen Patienten auch an großen Häusern lange auf die gewünschte Untersuchung warten. Es dürfte auch eine nicht zu unterschätzende Herausforderung sein, ausreichend große Bauflächen für den Neubau größerer Kliniken oder den Anbau zu finden.
„Daher ist nicht die hirnlose Massenschließung von Krankenhäusern die Lösung, sondern ein gestuftes Konzept der Versorgung unter Berücksichtigung vieler Faktoren, wie Lage, Bevölkerungsdichte, Entfernung zu weiteren Versorgungsmöglichkeiten“, kommentiert ein Viszeralchirurg auf DocCheck.
Das Bundesgesundheitsministerium reagierte bislang zurückhaltend auf die Studie. Man habe sie „zur Kenntnis genommen“, sagte eine Sprecherin. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach sprach sich bereits für Krankenhausschließungen aus. Es sei tatsächlich so, dass die Qualität mit weniger Kliniken steigen würde. Allerdings nur, wenn die richtigen geschlossen werden.
*Name von der Redaktion geändertBildquelle: Annie Spratt, unsplash