Bei manchen Demenz-Patienten spielt sich kurz vor ihrem Tod etwas Seltsames ab. Trotz jahrelangem Dämmerzustand sind sie für kurze Zeit wieder bei vollem Bewusstsein und führen normale Gespräche. Wie ist das möglich?
Eine Frau wird seit Jahren aufgrund einer Alzheimer-Erkrankung von ihrer Tochter gepflegt. Die Patientin ist schon lange nicht mehr ansprechbar und erkennt offenbar weder ihre Tochter noch andere Personen. Doch kurz vor dem Tod der Mutter passiert etwas Seltsames: Plötzlich beginnt die Frau, sich ganz normal mit ihrer Tochter zu unterhalten – so als wäre nie etwas gewesen. Wenige Minuten später stirbt sie. Wie kann das sein?
Das Phänomen, das in dem Fallbericht beschrieben wird, nennen Forscher terminale oder paradoxe Klarheit (terminal/paradoxal lucidity (PL)), also die geistige Klarheit kurz vor dem Tod. In der Literatur findet man zahlreiche Berichte und Anekdoten dazu, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Was das Phänomen so rätselhaft macht, ist, dass es selbst bei Patienten eintritt, die an schweren degenerativen Erkrankungen leiden. Beschrieben wurde es nicht nur bei Demenz-Patienten, sondern auch bei Patienten mit Hirntumoren, Schlaganfällen, Meningitis und sogar bei Komapatienten, die kurz vor ihrem Tod ein letztes Mal aufwachen. Selbst wenn die Schaltkreise im Gehirn also nicht mehr richtig funktionieren, so scheint es, als könnte das Gehirn trotzdem für eine kurze Zeit wieder zu normalen kognitiven Leistungen fähig sein.
Warum und wie es dazu kommt, ist bislang noch nicht erforscht. Bis vor einigen Jahren haben Mediziner diesem Phänomen auch noch keine große Aufmerksamkeit geschenkt. Das wollen Forscher nun ändern. Denn möglicherweise liefern die Erkenntnisse wichtige Einblicke in die Pathophysiologie und könnten bei der Therapie von Demenz von Nutzen sein.
Das Team um Prof. George A. Mashour, Anästhesiologe und Neurowissenschaftler, analysierte in einem aktuellen Review zahlreiche Fallberichte zu PL bei Demenz. Bei wie vielen Demenz-Patienten es auftritt, ist nicht bekannt. Bei rund der Hälfte der bekannten Fälle kommt es innerhalb der letzten 24 Stunden vor dem Tod zur paradoxen Klarheit. In selteneren Fällen tritt es 2 bis 7 Tage vor dem Tod auf. Das Aufklaren kann dabei wenige Sekunden, Minuten bis hin zu Stunden andauern, in den meisten Fällen dauert es 30 Minuten bis wenige Stunden. Da es bisher keine neurowissenschaftlichen Studien zu dem Phänomen gibt, kann man über die möglichen Mechanismen nur spekulieren.
So nimmt Mashour an, dass eine kurzzeitige Steigerung der elektrochemischen Aktivität im sterbenden Gehirn – ähnlich der Spreading Depolarization – von Bedeutung sein könnte. Über dieses Phänomen berichtete DocCheck bereits: Bricht der Kreislauf zusammen, wird das Gehirn nicht mehr mit Sauerstoff versorgt. Das Hirn reagiert sehr empfindlich auf Sauerstoffmangel. Innerhalb von 20 bis 40 Sekunden stellt das Hirn in einer Art Energiesparmodus seine elektrische Aktivität ein, die Kommunikation der Nervenzellen stoppt vollständig. Minuten später, wenn die Energiereserven aufgebraucht sind, bricht das energiebedürftige Ionen- und Spannungsgefälle zwischen dem Inneren der Nervenzellen und ihrer Umgebung zusammen. Dies passiert in Form einer massiven elektrochemischen Entladungswelle, die als Spreading Depolarization oder auch bildhaft als Tsunami bezeichnet wird. Diese Welle zieht durch die Hirnrinde und andere Hirnstrukturen und stößt dabei Schadenskaskaden an, die die Nervenzellen allmählich vergiften. Ähnliche Ereignisse, die zu einer Erhöhung der Gehirnaktivität führen, könnten aber auch bereits einige Zeit vor dem Tod eintreten.
„Wir haben angenommen, dass fortgeschrittene Demenz ein irreversibler neurodegenerativer Prozess mit irreversiblen funktionellen Einschränkungen ist“, sagt Mashour in seinem Bericht. „Aber wenn das Gehirn in der Lage ist, während paradoxer Klarheit – auch bei schwerer Demenz – auf eine Art funktionale Netzwerkkonfiguration zuzugreifen, deutet das auf eine reversible Komponente der Krankheit hin.“
Mashour hält es für möglich, dass bei sinkenden oder schwankenden Sauerstoff- und Glukosewerten ein Anstieg der Neurotransmitterspiegel auftritt, der zu einer vorübergehenden Aktivierung des Gehirns führt. Doch wie genau das zur spontanen kurzzeitigen Verbessung der kognitven Leistungen führen könnte, müssen Forscher noch herausfinden.
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