In dieser Nacht herrscht absolutes Chaos auf Station. Alle sind gestresst. Mit meinem Patienten bin ich überfordert. Er hat einen Krampfanfall. Und ich habe keine Ahnung, wieso. Das muss ich jetzt dem Chefarzt beichten.
Der Nachtdienst hat schon stressig begonnen. Die Kollegin vom Tagdienst hat kurz vor meinem Antritt eine Patientin im septischen Schock aufgenommen, die jetzt um ihr Leben kämpft. Außerdem hat sie noch 5 weitere Patienten, welche sie mir rapportieren muss. Zeit hat sie grade keine dafür.
Ich gehe ihr zur Hand, als sie den arteriellen und den zentralvenösen Zugang legt, bis schließlich etwa um Zehn das Diensttelefon klingelt: Auf einer chirurgischen Station ist ein Patient im Status epilepticus. Die Anästhesistin sei schon da gewesen und habe verfügt, dass ich mich darum kümmern und den Patienten auf die Intensivstation nehmen soll. Ich solle auch gleich einen Zugang legen und ein Medikament spritzen.
Ich eile auf die altersunfallchirurgische Abteilung, auf welcher der Patient liegt. Er ist im Bett, ein Oberarzt und zwei Assistenzärztinnen der Chirurgie sowie eine Pflegefachfrau stehen daneben. Ich habe das Medikament, welches den Krampf beenden soll, mitgebracht. Der Zugang ist rasch gelegt, das Medikament gespritzt – nach kurzer Zeit schon liegt der Patient wieder ruhig da. So kann ich ihn auf die Intensivstation nehmen.
Nun kommt der interessante Teil: Warum hatte der Patient überhaupt den Krampfanfall? Wir überprüfen mittels Schnellanalyse einige Blutwerte, die aber alle völlig normal sind. Ich hab keine Ahnung, wonach ich überhaupt suchen muss, also lese ich erst mal nach. Die Kollegin ist nach wie vor mit ihrer Patientin beschäftigt, sieht aber wohl meinen ratlosen Gesichtsausdruck und wirft mir im Vorbeigehen ein paar Worte an den Kopf wie „malignes neuroleptisches Syndrom“. Hab ich glaub ich mal im Studium gehört. Das lese ich dann gleich als Nächstes nach.
Der Patient ist stabil an der Überwachung, Blutdruck und Atmung sind völlig normal, aber vom Medikament von vorhin und vom Krampfanfall her schläft er tief und fest. Seine Hirnfunktionen kann ich so nicht überprüfen. Ich möchte eine CT-Aufnahme des Gehirns haben, um zu sehen, ob da irgendwas nicht gut ist. Ich spreche das kurz mit dem chirurgischen Oberarzt ab, der sein Einverständnis gibt.
Ich muss den Patienten, zusammen mit einer Pflegekraft, ins CT begleiten – er könnte ja nochmal einen Anfall haben. So stehe ich um elf Uhr nachts im CT-Steuerungsraum, wo ich mich mal kurz setzen und nochmal mein kleines schlaues Buch hervorholen kann. Erst jetzt merke ich, wie gestresst ich bin. Ich hatte noch nicht mal Rapport, die Kollegin vom Tagdienst ist nachts um Elf immer noch da (die hat morgens um halb Acht angefangen, aber ehrlich, ohne sie wäre ich grade völlig aufgeschmissen), es herrscht Chaos, alle sind genervt. Ich stehe unter Strom.
Auf Ruf der Radiologiefachfrau betritt der Radiologe den Raum – es ist der Chefarzt, der Dienst hat. Es ist das erste Mal, dass ich mit ihm zusammenarbeite – meine Aufregung nimmt noch ein bisschen zu. Er lächelt in die Runde, setzt sich an einen PC und schaut sich das erste Bild an.
„Na, was hat er denn?“, fragt er mich freundlich und in ruhigem Ton. Ich hasple eine Zusammenfassung der letzten Stunde zusammen. Er lächelt immer noch. Die Radiologiefachfrau fährt jetzt die erste Untersuchung. Gebannt schauen wir auf die entstehenden Bilder.
„Wie läuft’s denn so bei euch?“, fragt mich der Chefarzt.
Ich schnaube. „Riesenstress. Wir haben vorhin eine Patientin im septischen Schock bekommen, und jetzt kommt er noch dazu. Ich hab noch fünf weitere Patienten, und von der Pflege ist jemand krank. Ein echtes Chaos“, platzt es aus mir heraus.
Der Radiologe lächelt wieder. Kann diesen Mann wohl irgendwas aus der Ruhe bringen? „Ach, das ist ja blöd… Immer alles auf einmal, was? Was habt ihr denn für einen Verdacht bezüglich des epileptischen Anfalls?“
Ich sage es ihm ehrlich: Ich hab keine Ahnung, habe an dieses und jenes gedacht, aber die bisherigen Untersuchungen waren alle in Ordnung. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund schmunzelt der Radiologe daraufhin.
Inzwischen sind die ersten Bilder da. Wir sehen schon auf den ersten Blick große Hirninfarkte, einige davon älter, andere sehen frischer aus. Der Gedanke, dass es „nur“ ein Hirninfarkt sein könnte, wirkt auf mich unendlich beruhigend. Das ist was, das ich kenne, ich weiß, was weiter zu tun ist. Die nächsten Schritte sind klar, die krieg ich problemlos hin.
Das weiß auch der Radiologe. „Na, da haben wir’s ja. Wir fahren noch das Kontrastmittel, aber Blutung sehe ich auf den ersten Blick keine. Wenn’s ein Infarkt ist, dann haben Sie ja schon die Antwort, und dann wissen Sie auch wie’s weitergeht, oder?“ Er spricht ruhig und aufmunternd.
Ich atme tief durch und packe das schlaue Büchlein weg. Mein Herz schlägt ruhiger, meine Zuversicht kehrt zurück. Zusammen nehmen wir den Patienten zurück auf die Intensivstation, wo er die Nacht noch ausschlafen darf, während ich mich mit den Kollegen von der nächsten Stroke-Unit rückspreche. Die Neurologin am Telefon ist schrecklich nett. Sie ruft nach Rücksprache mit ihrer Oberärztin prompt zurück und tischt mir ein vernünftiges, durchdachtes Prozedere auf, welches ich nur noch umsetzen muss.
Danach geht alles irgendwie einfacher. Manchmal braucht es einfach nur jemanden, der ein bisschen Ruhe verbreitet. Das ist die Art Ärztin, die ich gerne mal sein will. Die ruhige, freundliche, die die jüngeren Kollegen ermutigen und stärken kann. Die den Überblick hat, weiß was zu tun ist, alles unter Kontrolle hat. Das Auge des Sturms.
Da arbeite ich noch dran.
Bildquelle: Coastal Elite, flickr