Der Griff zur Überweisung ist verlockend. Ich könnte die Untersuchung zwar auch selber machen, aber das kostet Zeit. Und die habe ich nicht.
Vor ein paar Tagen ist mir auf der Arbeit etwas ganz Seltsames passiert: Es war richtig wenig los und ich hatte Zeit. Zeit, um in Ruhe mit den anwesenden Patienten alles zu besprechen. Zum Beispiel ihre Befunde, das weitere Vorgehen, Rückfragen zu früheren Konsultationen. Ich hatte sogar allen Ernstes Zeit, auf Antworten zu warten. Und als wirklich kein Patient mehr da war, konnte ich in Ruhe die Befunde durchsehen, ältere Befunde abgleichen und sogar für einen Patienten nochmal in den aktuellen Leitlinien nachschlagen. Nicht „mal eben schnell“, sondern in Ruhe. Ich konnte auch mit der Kollegin noch einen Befund durchsprechen, bei dem ich unsicher war.
Normalerweise ist für sowas nur am Rande Zeit. Man bespricht „mal eben“ die Laborwerte und vergleicht maximal mit dem letzten Vorwert. Man bespricht nach der Sprechstunde „noch eben“ den Befund mit den Kollegen, bevor man die Kinder abholt. Das reicht für die Standards oder für die Dinge, die ins Auge springen, auch meistens aus. Problematisch ist es, wenn Werte nur leicht erhöht sind oder nicht sofort eindeutig zuzuordnen. Ein erhöhtes Troponin sieht man – den Wert hat man im Zweifelsfall auch gezielt angekreuzt.
Leicht erhöhte Leberwerte sind schon schwieriger. Eigentlich müsste man jetzt mal nachfragen, ob der Patient Medikamente eingenommen hat (z.B. macht Ibuprofen das gerne), wie die Werte früher waren, ob in der Familie Lebererkrankungen bekannt sind, wie der Impfstatus ist, und im Zweifelsfall noch zeitnah ein Sono Abdomen durchführen. Im Alltag ist das aber oft schwierig – und manchmal geht es auch unter.
Und das nicht nur auf Seiten der Ärzte. Ich bin immer wieder erstaunt oder sogar erschrocken, wie oft ich mitbekomme, dass man zwar eine Abklärung besprochen hatte, der Patient aber erst nach anderthalb Jahren mit was völlig anderem wiederkommt und dann das alte Thema einfach nicht mehr auftaucht. Gerade bei so „leicht erhöhten Leberwerten“. Dann steht in der Dokumentation, was alles geplant war, aber durchgeführt wurde nichts.
Oft hat sich der Patient einfach nicht mehr gemeldet. Vielleicht, weil er es nicht für so wichtig hielt. Oder weil er bei Beschwerdefreiheit gedacht hat, dass es nicht wichtig wäre, das weiter abzuklären, was aber bei manchen Werten leider die falsche Entscheidung ist. Oder weil er es schlichtweg vergessen hat. Eigentlich wäre es schön, wenn man als Arzt dann manchmal auch nachhören könnte, was denn da rausgekommen ist. Aber auch dafür fehlt oft die Zeit oder die Muße, nochmal zu überlegen, bei wem man denn besser nochmal nachhören sollte.
Natürlich ist es das gute Recht des Patienten, keine Abklärung durchführen zu lassen. Wenn das eine bewusste Entscheidung ist, kann ich da auch gut mit leben. Ich erinnere mich an eine Patientin im Krankenhaus, die eine fragliche Pankreasraumforderung hatte. Sie sagte mir ganz klar, dass sie leider schon zweimal mitbekommen hat, wie wenig man im Endeffekt bei einem Pankreaskarzinom machen konnte – vor 10 Jahren war das wirklich noch so – und wenn, sei die Lebensqualität meistens nicht so gut. Also wollte sie das gar nicht wissen. Das ist völlig ok für mich – das kann/darf/soll jeder selbst entscheiden.
Problematisch ist es dann, wenn Werte für den Patienten relativ unscheinbar wirken, aber aus medizinischer Sicht eine weitreichende Wirkung haben können. Nehmen wir zum Beispiel mal den Eisenstoffwechsel. Die meisten denken bei Eisen sofort an Eisenmangel. Warum man eventuell mal abklären sollte, wenn jemand ein erhöhtes Ferritin hat, ist deswegen für viele undurchsichtig. Das kann aber bei einer unentdeckten Hämochromatose durchaus zu schwerwiegenden Schäden wie einer Leberzirrhose führen.
Dafür müsste man aber a) die Werte bestimmen. Was Geld kostet. Und b) als Arzt in Ruhe mit dem Patienten sprechen, wann welche Kontrolle notwendig ist und erklären, warum man das abklären sollte, damit der Patient sich selbst auch kümmert. Passiert das nicht, merkt es der Patient schlimmstenfalls erst, wenn die Leber schon massiv geschädigt ist. Die Hämochromatose selbst tut ihm ja nicht weh.
Auch für die Vermeidung von unnötigen oder doppelten Untersuchungen braucht man Zeit. Um dem Patienten zu erklären, warum die Untersuchung eben nicht oder nicht nochmal notwendig ist. Um etwaige Ängste mit dem Patienten zu besprechen. Oder nochmal den Medikationsplan zu erläutern, damit es nicht zu folgenschweren Verwechslungen kommt – nachdem man als Arzt natürlich selbst in Ruhe auf mögliche Interaktionen gecheckt hat. Zumindest theoretisch.
Manchmal braucht man auch einfach Zeit, bis der Patient spricht. Manche – gefühlt vor allem männliche – Patienten brauchen einfach ihre Zeit, um erstmal wieder mit dem Arzt „warm“ zu werden, damit sie sich zu bestimmten Dingen überhaupt äußern. Wie oft erzählt der Patient erst von irgendeinem (völlig unwichtigen) Symptom und erst, wenn der Patient schon gehen will und in der Tür steht, kommen die großen Sachen „nur kurz“ auf den Tisch. Mehr als einmal gehört „Wegen der Luft komme ich dann ein anderes Mal“. Halt Stop, nochmal reinkommen: Luftnot? Seit wann, wobei? Und dann geht die oftmals viel wichtigere Abklärung erst los.
Wie man also hoffentlich erkennen kann, ist Zeit ein wichtiges Gut. Aber leider eine sehr begrenzte Ressource. Wir bräuchten viel mehr Zeit zur Krankheitsprävention, zur detaillierten Anamnese, zur ruhigen Besprechung von Befunden, zur Überlegung einer rationalen und rationellen Diagnostik, und auch viel mehr Zeit für die Therapie. Für die Erklärung der Therapie oder auch für das „therapeutische Gespräch“.
Wenn wir Hausärzte genug Zeit hätten, könnten wir sicherlich auch die Psychotherapeuten gut entlasten, weil wir dann mehr Kurzinterventionen bei akuten kleineren „Lebenskrisen“ machen könnten. Aber wenn draußen im Wartezimmer noch 20 Leute warten, ist dann der Griff zur Überweisung oft einfacher. Und zeitsparender. Dasselbe gilt für Untersuchungen, die man selbst durchführen kann, aber nicht muss, weil man dafür auch zum Spezialisten weiterschicken kann. Eine gute Sonographie ist mit 20 min oft knapp bemessen, wenn man wirklich alles en detail ansehen will und nicht nur mal eben sehen, ob einem was Großes „ins Auge springt“ an Leber oder Nieren.
Ja, wir machen sehr viel selbst in unserer Praxis. Allein schon, weil sonst die Wege so weit sind. Aber die Verlockung, gerade in der Infektsaison doch lieber zur Überweisung zu greifen (2 min), anstatt z.B. die Ergometrie (mit allem ca. 45 min) selbst zu machen, ist schon groß. Damit verursache ich aber natürlich dem Gesamt-Gesundheitssystem mehr Kosten – weil natürlich auch der andere Kollege wieder seinen Lohn bekommen muss und ich die Untersuchung auch eigentlich selbst durchführen kann. Dafür brauche ich seine Expertise eigentlich nicht. Er hat dann auch weniger Zeit für die eigentlich wichtigen Patienten, die auf die spezialärztliche Expertise angewiesen sind. Das Problem: Bei diesem System kommen inzwischen Patientenmengen zu stande, die einfach kein Arzt mehr stemmen kann.
Ich hab mal in einem Interview gelesen, dass für einen Hausarzt 750 Patienten pro Quartal ideal wären. Das entspricht auch meinem Gefühl. Stattdessen wurde vor ein paar Monaten noch diskutiert, dass man ab dem 1200. Patient pro Quartal mehr Geld bekommen solle, um zusätzliche Anreize zu schaffen. Wir rechnen mal eben durch: 25 h Sprechzeit pro Woche, macht etwas über 100 h im Monat. Rechnen wir mal mit 120 h, damit es einfacher ist. Bei 1200 Patienten pro Quartal sind das 6 min pro Monat pro Patient oder 18 min pro Patient pro Quartal. Klar ist das eine Mischkalkulation und nicht alle Patienten brauchen die 18 min für das ganze Quartal. Aber gerade bei einer älteren Bevölkerung muss man auch die Zeit zum An- und Ausziehen rechnen, die Zeit für das Gespräch inklusive Erklärungen, die Zeit für Untersuchungen, etc.
Da sind 18 min für die gesamten drei Monate des Quartals sehr knapp geplant. Von der Wundversorgung chronischer Wunden ganz zu schweigen. Die müssen teilweise mehrfach pro Woche gesehen und versorgt werden. Und bitte auch alles immer schön dokumentieren. Ich glaube nicht, dass man dieses Tempo längerfristig als Arzt durchhalten kann, ohne dass dann sich die ersten Flüchtigkeitsfehler einschleichen, wie oben erwähnt übersehene Blutwerte zum Beispiel.
Was tun? Ich fürchte, die perfekte Antwort habe ich nicht. Ich würde aus meiner persönlichen Erfahrung ein starkes Primärarztsystem favorisieren. Ich bin aber auch für andere Ideen offen. Ich fände es am besten, wenn jeder Patient einen persönlichen Primärarzt (z.B. Allgemeinmediziner oder hausärztlich tätiger Internist) hätte, der möglichst viele Untersuchungen im Zweifelsfall selbst durchführen kann und dann nur bei Bedarf weiter überweist.
Dafür müsste aber dieser Primärarzt dann auch genug Zeit für den einzelnen Patienten haben, d.h. wir bräuchten vor allem in diesem Sektor einfach mehr und möglichst breit und gut ausgebildete Ärzte. Und wo man die so schnell flächendeckend herkriegen kann, weiß ich nicht. Das bleibt wohl also Zukunftsmusik. Das ist sehr schade, weil dadurch mehrere Probleme auf einmal gelöst werden könnten: Es würde weniger kosten, weil nicht für alles 2-3 Fachärzte aufgesucht werden müssten. Und diejenigen, die wirklich einen Spezialisten brauchen, würden schneller einen Termin bekommen. Aber wie gesagt – dafür bräuchten wir Hausärzte Zeit für unsere Patienten. Zeit für's Untersuchen und mehr Zeit für's Reden. Denn diese Zeit, die wir da investieren, hilft dem Patienten und dem Gesundheitssystem. Diese Zeit spart Geld.
Anmerkung: In einer früheren Version hatte ich mich verrechnet und war von 10min pro Monat bzw. 30min im Quartal ausgegangen - aber es sind noch weniger. Danke für die Anmerkung vom "Interessierten Leser".
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