Schicksalsschläge von Patienten sind für uns Alltag. Aber was ist, wenn es uns selbst trifft? Ich denke, dass mich ein Schicksalsschlag zu der Ärztin gemacht hat, die ich heute bin.
Wir Ärzte sind oft mit Schicksalsschlägen unserer Patienten konfrontiert. Interessanterweise werde ich auch oft gefragt, ob meine eigenen Schicksalsschläge zu meiner Berufswahl geführt haben. Ich weiß es nicht. Aber es gab sicherlich einen Schicksalsschlag, der meine Kindheit geprägt hat und zwar der Schlaganfall meiner Mutter. Ich war damals im Grundschulalter. Dazu später mehr.
Ich persönlich empfinde es als schade, dass es bei der Betrachtung von Schicksalsschlägen meistens nur darum geht, was der Mensch in diesem Moment alles verloren hat bzw. wie stark er traumatisiert ist. Denn ich wage zu behaupten, dass es noch einen anderen Aspekt gibt, den es dabei zu beachten gibt: Auch Schicksalsschläge können (!) Vorteile mit sich bringen.
Das soll natürlich nicht heißen, dass man auf Teufel komm raus alles super finden muss, was einem passiert. Es gibt viel Leid auf der Welt, das einfach nur furchtbar ist und das ist auch nicht schönzureden. Aber aus manchen schlimmen Dingen kann auch etwas Positives werden.
Um bei dem Beispiel der Erkrankung meiner Mutter zu bleiben: Sie hat zwar überlebt, aber es war ein sehr langer Krankenhausaufenthalt und nachfolgend hatte meine Mutter sehr stark mit ihrer Halbseitenlähmung, ihrer Aphasie und ab und zu auch mit epileptischen Anfällen, zu kämpfen. Sicherlich war ich nach dem Schlaganfall meiner Mutter nicht immer das kindlichste“ Kind und vielen oft zu ernst für mein Alter. Man kann also sicherlich sagen, dass ein Teil von mir an diesem Tag verlorenging. Aber ich habe durch die Erkrankung meiner Mutter einen Vorteil in meinem Beruf: Ich kann sehr gut mit Aphasikern reden.
Ich erinnere mich daran, wie ich im Krankenhaus eine Gruppe Studenten dabei hatte, als ich auf der Überwachungsstation eine Patientin mit einer ausgeprägten Aphasie visitierte. Als wir nach der Visite in dem Zimmer auf dem Flur standen, platzte es aus einem der Studenten heraus „Was war denn DAS?!“ Auf meine verwunderte Rückfrage, wovon er denn spräche, meinte er: „Du hast dich die ganze Zeit mit einer dementen Patientin unterhalten, als würde das alles Sinn ergeben!“
Erst da fiel mir auf, dass ich einfach (aus Gewohnheit?) die Aphasie der Patientin im Gespräch außen vor gelassen hatte und mich so mit ihr unterhalten hatte, wie ich das auch mit meiner Mutter getan hätte. Ohne Verbessern, einfach die verwechselten Worte akzeptieren und den Kontext verstehen.
Auf die Studenten wirkte es so, als hätte die Patientin völlig sinnlos gesprochen. Daher rührte die Vermutung, die Patientin sei dement. War sie aber nicht. Aber einen Aphasiker von einem Dementen zu unterscheiden, kann ganz schön schwierig sein. Die Sprache macht halt viel im Umgang von Menschen aus. Erst durch meine Erkärung konnten die Studenten die Worte der Patientin „übersetzen“ und verstehen, dass die Patientin durchaus geistig fit war. Leider konnte sie es selbst nicht mehr so rüberbringen, vor allem, wenn sie aufgeregt war. Es fehlten die richtigen Worte. Ohne die Erkrankung meiner Mutter hätte ich wahrscheinlich genauso dagestanden wie die Studenten und die Patientin auch eher für dement gehalten.
Heißt das, dass ich heute nicht mehr traurig bin, dass meine Mutter so krank geworden ist, als ich ein Kind war? Nein – ich finde das immer noch schade und sehr traurig. Aber in gewisser Weise hab ich meinen Frieden damit gemacht. Es hat weh getan, aber für diese Patientin (und inzwischen für einige andere) hat es einen sehr positiven Unterschied gemacht. Oder, wie es der Sänger Damian Wilson am Ende seines Liedes so treffend beschreibt: „Though I find it hard to say – part of me was made that way.“
Auch heute noch sind meine Patienten häufig überrascht, wenn ich auch mal die Angehörigen eines chronisch kranken Patienten frage, wie es ihnen, den Angehörigen, denn geht. Denn auch das habe ich selbst als Angehörige gemerkt. Natürlich sind die chronischen Erkrankungen schlimm für den Patienten – aber es kann auch für einen Angehörigen (darunter fallen ggf. auch die Kinder) sehr schwierig sein, daneben stehen zu müssen und nicht helfen zu können. Diesen Fokus „verdanke“ ich sicherlich auch meiner eigenen Lebensgeschichte.
Diese Lebensgeschichte hört ja auch nie auf. Ich habe ja bereits darüber geschrieben, wie sehr die erste Arbeitsstelle auch eine Auswirkung darauf haben kann, wie man sich selbst als Arzt sieht und fühlt und ich glaube, dass auch meine furchtbare Zeit in der ersten Klinik mir da eine Menge beigebracht hat. Über Arbeitsbedingungen, Stress, über mich selbst und meine Stressresistenz und auch fachlich.
Ich erinnere mich an einen Patienten, den ich Jahre nach meinem Klinikwechsel in der zweiten Klinik gesehen habe. Er war schon bei fünf oder sechs Ärzten verschiedener Fachrichtungen gewesen und niemand konnte ihm helfen. Als ich die Unterlagen durchsah, war ich mir relativ sicher, dass eine der aufgrund der Blutwerte ausgeschlossenen Diagnosen die richtige war. Mein Oberarzt war zwar skeptisch, ließ mich diesen Weg aber weiterverfolgen. Ich musste für die erforderliche Testung, die bislang nicht gelaufen war, den Patienten in meine alte Klinik verlegen und auch da war man ob der Diagnose skeptisch. Erst bei der Nachfrage einige Wochen später, was die Testung ergeben hatte, stellte sich heraus, dass mein Verdacht korrekt gewesen war. Ohne die fachliche Erfahrung der ersten Klinik in Kombination mit dem Selbstvertrauen aus der zweiten Klinik wäre das so nicht möglich gewesen.
In gewisser Weise kennt jeder dieses Phänomen: Am Anfang ist man als Arzt oft überzeugt, dass man im Studium alles Notwendige gelernt hat. Man weiß also genau, wie alles laufen muss. Das eigene medizinische Urteil ist so lange unfehlbar, bis man das erste Mal bemerkt, dass man Fehler gemacht hat (dazu habe ich an anderer Stelle bereits geschrieben). Hoffentlich nur einen kleinen, vielleicht sogar nur einen Pseudofehler, aber man fühlt sich trotzdem erstmal schlecht deswegen. Im Zuge dessen geht ein Teil des eigenen Selbstbildes verloren. Weg vom unbesiegbaren Superhelden, der man noch als Jugendlicher und Jung-Arzt war, hin zum Zweifler, zum Versehrten – war man gar einfach nur ein Mensch? Die ersten praktischen Erfahrungen und großen und kleinen Katastrophen des Alltags machen dann deutlich umsichtiger und sicherlich auch nachsichtiger im Umgang mit Patienten und anderen Ärzten.
Ein anderer oft heftiger emotionaler Einschnitt sind die eigenen Kinder. Das Leiden der Eltern nachzuvollziehen, wenn das Kind nur schreit und sich gar nicht mehr beruhigen lässt und man völlig verzweifelt davor steht und nicht mehr weiß, was man tun soll. Ich sehe viele Dinge heute auch anders, als ich es vor meinen Kindern getan habe. Weil ich auch nie gedacht hätte, dass einen manche Dinge so treffen können.
Und so geht das immer weiter. Ich erinnere mich an eine Kollegin, die selbst akut erkrankte und auf unsere Intensivstation musste. Als wir uns später darüber unterhielten, meinte sie, dass sie jetzt viel stärker auf bestimmte Dinge achte, die ihr vorher einfach nie aufgefallen sind (z. B. sowas wie Privatsphäre auf der Intensivstation bei wachen Patienten). Wenn man Leute gezielt darauf anspricht, ist es ihnen klar, dass man auf die Privatsphäre achten muss – aber in der Umsetzung hapert es oft, weil man in dem Moment nicht darauf achtet. Es fehlt die persönliche Erfahrung damit.
Nochmal, das heißt nicht, dass alles Leid gut ist oder nur Leute mit einem gewissen Ausmaß an Schicksalsschlägen Ärzte werden sollten. Natürlich gibt es auch Leute mit einem tollen Einfühlungsvermögen, die das nicht selbst miterleben müssen. Mir geht es darum, solche Begebenheiten nicht nur in dem Licht des Verlustes zu sehen! Ja, es gibt sicherlich einen Verlust. Aber manchmal eben auch eine Chance. Die für mich schönste Darstellung dieses Sachverhaltes hab ich vor Jahren mal in einem Buch gelesen:
„Sieh den Regenbogen! Nur wenn der Himmel weint, erblickst du die Farben im Licht.“ – Tào-Shan
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