Bei Phase-1-Studien treten schwere Zwischenfälle extrem selten auf, seit ein neues Regelwerk greift. Trotzdem sind jetzt mehrere Probanden zu Schaden gekommen. Haben sich Dienstleister nicht an europaweit geltende Vorgaben gehalten?
Eigentlich wollten Forscher von Biotrial aus dem französischen Rennes lediglich neue Wirkstoffe testen. Das Protokoll ihrer Phase-1-Studie sah vor, ein Molekül von Bial-Portela & Ca. S.A. bei 128 gesunden Probanden zwischen 18 und 55 Jahren einzusetzen; 90 Personen waren bislang involviert. Doch die Sache geriet außer Kontrolle.
Sechs Patienten im Alter von 28 bis 49 Jahren mussten bald darauf stationär behandelt werden. Am 18. Januar haben Ärzte einen Probanden offiziell für tot erklärt. Bei ihm seien Funktionen des Groß- und Kleinhirns beziehungsweise des Hirnstammes unwiederbringlich erloschen, heißt es in einer Mitteilung der Klinik. Weitere fünf Menschen werden in Rennes stationär behandelt. Ihr Zustand sei stabil; bleibende gesundheitliche Beeinträchtigungen gelten bei drei von ihnen als wahrscheinlich. Weitere 84 Teilnehmer der Studie blieben gesund. Während die französische Behörde für Medikamentensicherheit (ANSM) nach Gründen sucht, sprach Biotrial-Chef François Peaucelle von „unvorhersehbaren, ungeklärten und unerklärlichen Ereignissen“, nannte aber keine Details. Trotzdem sickerten Informationen durch.
Ein Studienteilnehmer hat französischen Medien Informationen zugespielt. Aus dem Dossier geht hervor, dass es sich beim Testkandidaten BIA 10-2474 um einen Inhibitor der Fettsäureamid-Hydrolase (FAAH) handelt. FAAH wirkt als Enzym auf das endogene Cannabinoid-System (ECS). Schon lange gilt ECS als Schnittstelle bei Vorgängen wie der Antinozizeption, der retrograden neuronalen Kommunikation, der Motorik, der kardiovaskulären und der immunologischen Regulierung. FAAH metabolisiert und inaktiviert unter anderem Anandamid. Hemmstoffe verstärken dessen Wirkung im Gehirn – sie gelten weltweit als mögliche Therapeutika bei neurodegenerativen Erkrankungen oder Schmerzen. In Deutschland würden derzeit keine Studien mit BIA 10-2474 durchgeführt, berichtet das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Behördenvertreter hatten sieben klinische Prüfungen mit FAAH-Inhibitoren genehmigt. Alle Studien seien abgeschlossen, ohne dass schwere Zwischenfälle aufgetreten wären, heißt es weiter. Trotzdem entbrennen politische Kontroversen.
Professor Dr. Karl Lauterbach (SPD) sagte, ein Fehlschlag könne auch in Deutschland passieren, denn „die Regeln für solche Tests“ seien „die gleichen“. In heimischen Kliniken führen Wissenschaftler mehr als tausend klinische Studien pro Jahr durch; rund 250 sind Studien der Phase 1 mit gesunden Teilnehmern. Sicherheit werde „oft dem ökonomischen Erfolg geopfert“, ergänzt der Gesundheitsexperte. Angesichts des Wettbewerbsdrucks ginge es darum, Kosten zu sparen – „die Tests werden immer gefährlicher“. Dr. Siegfried Throm, Geschäftsführer Forschung/Entwicklung/Innovation des Verbands der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) bezeichnete Lauterbachs Vorwürfe als haltlos: „Die Pharma-Unternehmen haben selbst höchstes Interesse daran, dass keinem Teilnehmer in ihren Studien etwas passiert. Und sie müssen sich an ein umfangreiches Programm von Sicherheitsvorschriften halten, was auch behördlich überprüft wird.“ Throm nennt umfangreiche Maßnahmen, etwa Tests in Zellkulturen und in Tierexperimenten. Auch muss ein neuer Wirkstoff deutlich niedriger dosiert werden als bei der späteren Anwendung. Dass trotz aller Sicherheitsvorkehrungen Fehler passieren, kommt vor – wenn auch selten.
Dazu einige Zahlen. In den letzten elf Jahren hat das BfArM mehr als 10.000 klinische Prüfungen genehmigt, auch 2.700 klinische Prüfungen mit 100.000 gesunden Probanden. Zwischenfälle schwerwiegender Natur traten nicht auf. Etwas pessimistischer fällt das Fazit von Ezekiel J. Emanuel, Pennsylvania, aus. Der Wissenschaftler hat 394 Phase-1-Studien mit 11.028 Teilnehmen analysiert. Er berichtet von 34 schweren Komplikationen (0,31 Prozent), allerdings von keinem einzigen Todesfall. Sechs dieser 34 Fälle traten im März 2006 bei TGN1412 auf. Der Antikörper hatte zu Zytokin-Stürmen und zum systemischen inflammatorischen Response-Syndrom (SIRS) geführt. Als Konsequenz verabschiedeten EU-Gesundheitspolitiker bald darauf strengere Regelungen, gegen die Biotrial zumindest teilweise verstoßen hat. Die Applikation erfolgte nicht sequenziell mit zeitlichem Abstand, sondern bei etlichen Probanden parallel. ANSB-Experten überprüfen auch, ob zu hohe Dosen verabreicht wurden. Ein möglicher Grund: Bislang wirkten FAAH-Inhibitoren beim Menschen nicht wie erhofft, zeigten aber auch keine bedrohlichen Effekte. Wurde versucht, über die Menge gegenzusteuern?
Gegen welche EU-Regularien Biotrial verstoßen hat, wird sich in den nächsten Monaten zeigen. Trotz berechtigter Kritik am Dienstleister bleiben Phase-1-Studien für neue Arzneistoffe unverzichtbar. Strengere Auflagen führen nicht zwangsläufig in die richtige Richtung, so lange sich vorhandene Regularien leicht aushebeln lassen. Bleiben noch die Opfer. Zwar muss jeder Konzern eine Versicherung abschließen und mindestens 500.000 Euro pro Person auf die hohe Kante legen. Ob Verantwortliche entsprechende Summen rasch oder erst nach langjährigen Gerichtsprozessen auszahlen, sei dahingestellt. Neutrale Fonds mit Industriegeldern, die beispielsweise BfArM-Mitarbeiter verwalten, könnten aus dem Dilemma führen.