Nichts geht mehr. Für die Patientin können wir nichts mehr tun, das weiß ich jetzt. Ihre drei Kinder wissen es aber noch nicht. Wir müssen reden.
Frau Wegener ist 74 Jahre alt und seit über einer Woche bei uns auf der Intensivstation. Als sie zu uns kam, dachten wir erst, die Niere sei das Problem – die war zuvor schon schlecht, sie war seit Jahren an der Dialyse – doch im Verlauf stellte sich heraus, dass es vor allem das Herz ist, das nicht mehr mitmacht.
Frau Wegener erhielt viele Untersuchungen und Therapien für Niere und Herz. Zudem hatte sie auch eine schwere Lungenerkrankung und noch so manch anderes, schwerwiegendes Problem, das wir alle versuchten, zu verbessern – ohne Erfolg. Im Gegenteil: Der Patientin geht es nur immer schlechter, sie ist zunehmend verwirrt und müde, bis sie schließlich kaum mehr auf Ansprache reagiert. Ihr Herz pumpt kaum mehr, hat keine Kraft, starke Medikamente sind nötig, damit sie überhaupt einen messbaren Blutdruck hat.
Schließlich finde ich mich eines Sonntags mit ihrer Familie in meinem Büro wieder: Zwei Töchter und ein Sohn , alle um die 50 Jahre alt, sitzen mir gegenüber, um über Frau Wegeners Zukunft zu reden. Denn von uns aus ist es klar: Eine Besserung ist nicht in Sicht, und es ist Zeit, eine Entscheidung zu fällen.
Es ist mein erstes Gespräch dieser Art, und da Sonntag ist, hat auch mein Hintergrund keine Zeit, mich zu unterstützen („Sag mir dann, wie’s gelaufen ist. Erzwing nichts, schau einfach mal, in welche Richtung es geht.“) Ich bin nervös, habe Angst, nicht die richtigen Worte zu finden.
Das hab ich so auch gegenüber der zuständigen Pflegefachfrau geäußert. Ich weiß nicht, ob ich das kann. Was, wenn ich etwas Falsches sage? Etwas Dummes? Ich hab noch nicht einmal so einem Gespräch beigewohnt, konnte nie von jemand anderem lernen. Nun sitze ich hier, im eiskalten Wasser.
Die Pflegefachfrau hat Erbarmen mit mir. „Die richtigen Worte kommen von ganz allein, glaub mir.“ Als die Angehörigen zum vereinbarten Termin kommen, schließt sie sich uns spontan an. Sie sitzt neben mir, schweigend, die Angehörigen am runden Tisch uns gegenüber schauen mich erwartungsvoll an.
Ich beginne mit einer Zusammenfassung der Hospitalisation, vom Eintritt der Patientin bis heute. Die Untersuchungsergebnisse, die Therapieversuche. Ich will nicht um den heißen Brei herumreden, ich will Tatsachen auf den Tisch legen und klare Verhältnisse schaffen. So komme ich rasch auf den Punkt.
„Das Herz Ihrer Mutter arbeitet nicht mehr, es hat keine Kraft. Wir haben alles versucht, aber es reicht nicht. Sie hat auf keine unserer Therapien angesprochen. Sie ist seit einer Woche an der Dialysemaschine und sie hat starke Medikamente für ihren Kreislauf – sie ist auf Maschinen und Schläuche angewiesen. Wir sehen leider keine Aussicht auf Besserung.“
Das muss sich nun erstmal setzen. Die Töchter beginnen zu weinen, auch der Sohn hat feuchte Augen. Nach einer Weile der Stille fahre ich fort. „Für uns ist jetzt wichtig, herauszufinden, was Ihre Mutter in dieser Situation möchte. Sie hat keine Patientenverfügung, aber hat sie sich Ihnen gegenüber einmal geäußert? Können Sie sich vorstellen, was sie uns heute sagen würde, wenn sie es könnte?“
Ein paar Momente vergehen. Schließlich platzt der Sohn heraus: „Sie hätte das nicht gewollt!“ Seine jüngste Schwester nickt unter Tränen. „Ein Leben an Maschinen? Niemals. Und vor allem, wenn Sie sagen, es wird nicht besser.“ Sie schluchzt leise, ihre Stimme bricht. Ihre Schwester nimmt sie in den Arm. Die Packung Tachentücher auf dem Tisch leert sich langsam.
Ich fühle mich von den Gefühlen überrannt. Ich kenne Frau Wegener nun auch schon sehr gut, habe ihre Leidensgeschichte mitverfolgt, gesehen, wie rasch sie sich verschlechtert hat. Ihre drei erwachsenen Kinder mir gegenüber tun mir unendlich leid. Auch mir kommen die Tränen, doch ich beiße sie zurück. Jetzt nicht. Nachher dann.
„Wissen Sie“, beginnt der Sohn, „das ist ja nun das vierte Mal innerhalb der letzten Monate, dass wir an diesem Punkt sind. Jedes Mal dachten wir, jetzt ist es so weit. Jedes Mal hat sie sich wieder gefangen. Nun ist es halt so weit.“ Die Tränen fließen ihm die Wange herunter, aber er wirkt gefasst und entschlossen. Wieder bleibt es eine Weile still.
„Was geschieht denn nun?“, presst die mittlere Tochter heraus. „Wie geht es weiter?“
„Wenn wir uns entschließen, die Therapie abzubrechen, werden wir ihr Schmerzmittel geben, die anderen Medikamente langsam abstellen und die Schläuche, die sie noch hat, ziehen. Sie wird keine Schmerzen haben und langsam einschlafen. Sie dürfen selbstverständlich kommen und gehen, wie sie wollen, und immer bei ihr sein. Die Besuchszeiten gelten nicht mehr für Sie. Schließlich wird ihr Herz stehenbleiben.“
Die drei schauen sich an, und nicken schließlich. Sie stellen mir noch einige Fragen – wird sie auch sicher keine Schmerzen oder Angst haben, wie lange geht es, bis sie stirbt, was geschieht danach und so weiter. Ich beantworte alle Fragen, die ich beantworten kann.
Als alles gesagt ist, frage ich: „Wollen wir noch zusammen zu Frau Wegener gehen?“ Ihre drei Kinder bejahen. Zusammen gehen wir zur Patientin. Nun verliert auch der Sohn die Fassung. Als er zu seiner Mutter ans Bett tritt, schluchzt er plötzlich laut, wendet sich ab, setzt sich auf einen Stuhl. Seine Schwestern beziehen Stellung links und rechts des Patientenbettes. „Jetzt darfst du gehen, Mama. Bald bist du bei Papa, der freut sich bestimmt auf dich.“
Das wars. Ich kann nicht mehr. „Ich ruf den Oberarzt an“, murmle ich zur Kollegin von der Pflege. Die nickt. Ich verlasse das Zimmer und fliehe in mein Büro. Schon auf halben Weg laufen mir die Tränen herunter. Im Büro verbrauche ich noch die übrigen Taschentücher auf dem verlassenen Tisch, an dem wir gerade Frau Wegeners Tod besprochen haben.
Als ich das nächste Mal ins Patientenzimmer komme, sind die Schläuche schon alle weg, nur die Infusion mit den Kreislaufmedikamenten läuft noch. „Die Angehörigen gingen kurz raus an die frische Luft. Wenn sie wiederkommen, werde ich hier schrittweise reduzieren“, informiert mich die Kollegin von der Pflege. Frau Wegener tritt ihre letzte Reise eine gute Stunde später an, als ihre Kinder gestärkt und gefasst zurückkehren.
Frau Wegener verstirbt friedlich am frühen Morgen, im Beisein ihrer Töchter und ihres Sohnes, umsorgt, begleitet und geliebt.
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