Stell dir vor, du bist ein Junge, circa zehn Jahre alt. Du bist mit deinen Freunden im Freibad. Alle springen vom Einmeterbrett. Nur du zögerst – denn du kannst nicht schwimmen. Springst du?
Ganz unbeschwert den Sommer genießen: Das war der Plan, als ich mich mit meinem Bruder aufmachte, um mich im Freibad abzukühlen. Eigentlich wollten wir klettern gehen, aber es war so heiß, dass selbst im Wald die Temperaturen abartig hoch waren.
Wir hatten uns im Wasser bereits gut abgekühlt und freuten uns über die vielen verschiedenen Typen, die es so wahrscheinlich nur im Freibad gibt. Selbst der eigentlich ausgestorbene VoKuHiLa lässt sich hier vereinzelt noch finden. Die Jugend balzte, die Kinder kreischten, es wurde gespritzt, geplantscht, vom Seitenrand gesprungen und es wurden Freibadpommes verspeist. Ein schöner Nachmittag.
Irgendwann gingen wir zu den Sprungtürmen. Zwei etwa acht bis zehnjährige Jungs, nennen wir sie Ali und Marvin, schlugen den gleichen Weg ein. Johlend und eine beachtliche Ladung Testosteron im Gepäck, jede Menge Alta- und Deine-Mudda-Ausrufe.
Weil leider gerade am Zehner bereits zwei Sprungwillige anstanden, entschieden die Jungs sich spontan für den Einer. Ali stand nun vor mir in der Schlange, drehte sich noch einmal zögernd um und blickte mich an. Ich hatte das Gefühl, er wolle vielleicht doch nicht springen. Aber vom Beckenrand kamen laute Sprüche von seinem Kumpel: „Jetzt spring, Junge. Ist voll baby, da so zu stehen.“ Ali fragte, wie tief das Becken sei. Ich wies auf das Schild, fünf Meter tief. Ob man da stehen könne, fragte er. „Klar man, alter“, kam es von Marvin.
Also wippte Ali und sprang. Es spritzte ein wenig und dann war es sehr leise. Irgendwas war komisch, aber keiner schien so richtig zu begreifen. Dann plötzlich wurde es sehr hektisch. Ein älterer Herr kam angelaufen, sprang beherzt ins Wasser – und ging unter wie ein Stein. Dann ruderte er wie wild, die Hände über Wasser, der Kopf unter Wasser.
Was war hier los? Ich ging nach vorne und sah, dass Ali in Richtung Boden trieb, der Mann hatte das erkannt und wollte ihn rausholen. Von der Seite kam jetzt der Bademeister im Beckerhecht angesprungen, auch ich sprang ins Wasser und versuchte, Ali zu greifen. Der Bademeister zog den Erwachsenen aus dem Becken und schob ihn an Land, wo er auf dem Rücken liegen blieb. Gleichzeitig hatte ich Ali gepackt und hochgezogen. Beide wurden erstversorgt.
Ali hatte weit aufgerissene Augen und er hustete sich Seele und Badewasser aus dem Leib. Der Mann neben ihm war sein Vater und in einem deutlich schlechteren Zustand. Kurzatmig, Rasselgeräusche über der Lunge, Herzfrequenz knapp an die 200/min. Das Bademeisterteam sperrte sofort das Becken und kümmerte sich mit mehreren Leuten um Vater und Sohn.
Kurze Zeit später trafen die Profis ein und übernahmen den Sohn. Der Vater verweigerte trotz guten Zuredens die Mitfahrt und Krankenhausaufnahme.Es stellte sich heraus, dass eigentlich niemand in der Familie schwimmen konnte. Ich weiß nicht, was Ali dazu trieb, vom Brett zu springen. Vielleicht war die Angst vor den spöttischen Blicken der anderen größer als die Angst vor dem Wasser.
Es ist ein bekanntes Problem: Wir haben derzeit ein Problem mit Nichtschwimmern. Kaputte Schwimmbäder, zu wenig Lehrer, zu wenig Ausbilder. Gleichzeitig sieht Wasser so friedlich und unscheinbar aus. Niemand glaubt, wie schnell man ertrinken kann, bis einer ertrinkt.
Ich habe drüben bei Twitter darum gebeten, aufeinander aufzupassen. Mittlerweile gibt es unter dem Tweet unzählige Geschichten von Ertrinkenden und Gerade-noch-Geretteten. Von Menschen, die ihre kleinen Geschwister irgendwo rausgezogen haben, aber auch Geschichten, die von viel Arroganz und Ignoranz der Gefahr gegenüber geprägt sind.
Kinder atmen Wasser aus verschiedenen Gründen ein. Eine Welle, die sie überrascht, eine Unachtsamkeit. Ein Spielzeug, das nicht schwimmt und einfach auf den Boden sinkt. Kinder bücken sich danach und atmen weiter, auch unter Wasser. Der Kehlkopf ist voller Wasser, ein Schrei kommt dann nicht mehr raus.
Oder die Sonnencreme macht die Folie eines Swimmingpools sehr glitschig, einmal ausgerutscht und auf den Kopf gefallen können selbst größere Kinder auch in flachem Wasser ertrinken.
Unabhängig von der Größe des Kindes und den schwimmerischen Fähigkeiten können Kinder auch immer mal wieder krampfen. Das kindliche Gehirn ist noch im Wachstum und besonders anfällig für Einflüsse von außen. Der Krampf an sich ist meist relativ ungefährlich, gerät ein Kind bei einem Krampf unbeobachtet unter Wasser, kann das lebensbedrohlich sein. Das passiert immer auch wieder in Badewannen und auch bei Erwachsenen.
Noch etwas: Kinder, die nach einem Ertrinkungsunfall bei einem sommerlichen Badeunfall wiederbelebt werden müssen, haben weitaus schlechtere Chancen auf ein Überleben ohne Folgeschäden als Kinder, die im Winter in eiskaltes Wasser fallen. Denn vereinfacht gesagt, bleibt bei Ertrinkungsunfällen im warmen Badewasser das Herz irgendwann wegen des Sauerstoffmangels stehen. Das Gehirn musste dann bereits lange ohne Sauerstoff auskommen, ein schwerer Hirnschaden und eine bleibende Pflegebedürftigkeit werden mit jeder Minute wahrscheinlicher.
Das Problem des Sauerstoffmangels ist bei Ertrinkungsunfällen im kalten Wasser geringer. Im Eisbach oder zugefrorenen See ist der Kopf meist noch über Wasser, der Körper kühlt aus, der Stoffwechsel fährt runter, die Herzfrequenz wird langsamer (auch bei z.B. einem Herzinfarkt verbessert das die Chancen des Patienten auf ein Leben ohne Hirnschäden). Erst, wenn die Muskeln durch die Kälte gelähmt werden, gleitet der Körper des dann meist schon bewusstlosen Kindes unter Wasser. Das ist auch der Hintergrund beim „Wunder von Kärnten“. Prävention ist also das Allerwichtigste. Und weil ich so etwas Großartiges niemals selber twittern könnte, hier die schönste Reply und die Quintessenz der Diskussion:
In diesem Sinne: Habt Spaß, passt aufeinander auf, genießt den Sommer!
Bildquelle: Etienne Girardet, unsplash