Alzheimers Todestag jährte sich kürzlich zum hundertsten Mal. Immer noch fehlen überzeugende Studien, um die nach ihm benannte geistige Umnachtung zu stoppen oder sogar umzukehren. Aber zumindest das richtige Zielobjekt für therapeutische Angriffe scheint inzwischen gefunden.
„Warum Wirkstoffe gegen Alzheimer ständig versagen.“ Mit diesem Titel lockte das Wissenschaftsmagazin „Scientific American“ seine Leser auf einen Artikel über den Stand der Alzheimer-Forschung im Jahr 2014. Substanzen, die jene charakteristischen Plaques im Gehirn dementer Patienten abbauen und sie so wieder zu klarem Verstand zurückführen sollten, versagten in den letzten 10 Jahren gleich reihenweise im Schlussstadium ihrer Entwicklung.
Dabei wurde die Entdeckung des deutschen Neurologen Alois Alzheimer bis in die neunziger Jahre gar nicht richtig wahrgenommen. Heute registrieren wir jeden prominenten Alzheimer-Patienten - wie zuletzt etwa Gerd Müller - mit Erschrecken. Die Angst vor dem vernebelten Bewusstsein ist so groß, dass sich der Playboy Gunter Sachs lieber selbst tötete als das Erinnerungsvermögen zu verlieren. „Wir müssen nur alt genug werden, dann bekommen wir die Krankheit“, sagt Christian Haass, renommierter Münchner Demenzforscher. Jeder vierte End-Achtziger ist von der Krankheit betroffen. Immer deutlicher wird, dass es mit dem Abbau der Amyloid-Plaques nicht getan ist. Wenn man in Gesunden zum Teil mehr davon findet als Patienten mit der typischen Bewusstseinstrübung, ist der Zusammenhang wohl etwas komplizierter. Pfizer und Johnson & Johnson stellten ihre Entwicklungsprojekte ganz ein, weil Studien mit mehreren Tausend Teilnehmern zu keiner messbaren Verlangsamung des geistigen Verfalls geführt hatten. Roche stoppte die weitere Erprobung seines Amyloid-Antikörpers, nachdem die vermutlich zu geringe Dosis zu einem kaum messbaren Effekt geführt hatte.
Spricht man mit Experten aus den Forschungsinstituten, spürt man seit einem knappen Jahr zumindest wieder vorsichtigen Optimismus, dass sich die vielen Millionen Euro und Dollar an Investitionen zumindest langfristig auszahlen werden. Selbst wenn die wirklich überzeugenden Ergebnisse aus Studien immer noch fehlen. Auch einer der Hoffnungsträger jener Experten, der Eli-Lilly-Antikörper Solanezumab, fiel in den ersten beiden Phase III-Studien mit über 1000 Patienten erst einmal durch. Dennoch motteten die Wissenschaftler die Substanz nicht sofort ein. In den Genuss des Antikörpers kamen sowohl Patienten im frühen als auch im etwas fortgeschrittenen Stadium. Ist die Krankheit erst einmal in vollem Gang, kann sie auch eine Reduktion der Plaques nicht mehr aufhalten. Ein früher Start der Therapie scheint jedoch, so eine nochmalige Analyse der Studiendaten, zumindest ein wenig zu helfen, die Symptome zu verzögern. Ende dieses Jahres sollen nun Daten einer großen Solanezumab-Studie (EXPEDITION 3) [Paywall] mit frühem Beginn der Behandlung bekannt gegeben werden. Es scheint jedoch so, dass mit zunehmender Länge der Behandlung der Effekt immer deutlicher wird. Das schließlich bedeutet, dass die Bindung der monomeren Amyloid-ß-Fragmente nicht nur die Symptome, sondern die Pathogenese beeinflusst. Das Ausmaß der Plaquebildung schien sich in der Bildgebung nach Therapie nicht zu verändern, jedoch war der Unterschied im Erhalt der kognitiven Fähigkeiten sichtbar.
Auch ein anderer Amyloid-ß-Antikörper gegen das aggregierte Amyloid konnte im Frühjahr letzten Jahres vielversprechende Daten vorweisen. Roger Nitsch und seine Mitarbeiter von der Universität Zürich isolierten den Antikörper aus Immunzellen hochbetagter Menschen, die keinerlei Zeichen der Alzheimer-Krankheit aufwiesen. In einer ersten kleinen Phase-I-Studie zeigte der von Biogen weiterentwickelte Wirkstoff Aducanumab vielversprechende Ergebnisse, sodass sich nun direkt eine große Phase-III-Zulassungsstudie anschließen soll. Immer noch sind die Daten der letzten zwei Jahre aber nicht so stark, dass sie sämtliche Zweifler an der Amyloid-ß-Hypothese als Treiber der Krankheit überzeugen konnten. So sagt etwa Isabella Heuser von der Berliner Charité, Teilnehmerin an der Eli Lilly-Studie: „Ich halte die bisherigen Ergebnisse nicht für klinisch relevant.“ Tatsächlich wissen die Forscher immer noch zu wenig darüber, wie viel vom Wirkstoff im Gehirn ankommt und welche Dosis für die optimale Wirkung sorgt.
Daher wird weitergeforscht und mit anderen Zielmolekülen experimentiert, die Einfluss auf den Verlauf der Erkrankung haben könnten. Die für Alzheimer typischen Tau-Neurofibrillen sind hyperphosphoryliert. So könnte entsprechend einer kürzlich in „Nature Medicine“ publizierten kleinen Studie an humanen und Rattengehirnen eine Acetylierung von löslichem Tau-Protein am Anfang der Erkrankung stehen. Im Tiermodell hemmten die Wissenschaftler eine solche Acetylierung und beobachteten verringerte neuronale Atrophie im Bereich des Hippocampus. Ein wichtiges, aber schwierig anzugreifendes Ziel sind schließlich die Sekretasen – Enzyme, die Aß-Monomere aus dem Vorläufer-Protein herausschneiden, aber wichtig für den normalen Gehirn-Stoffwechsel sind. Eine Blockade dieser Scheren hat deswegen schwerwiegende Nebenwirkungen. Dennoch scheint ein Wirkstoff von Merck [Paywall] diese Last ganz gut ausbalancieren zu können. MK 8931 befindet sich inzwischen in Phase-III-Studien. Im letzten Jahr publizierte Christian Haass [Paywall] die Entdeckung eines neuen Amyloid-Monomers (Aŋ) und der zugehörigen speziellen Sekretase. Wenn andere Sekretasen blockiert werden, könnte es im Gehirn zu diesem Ausweg kommen. Der jedoch hat keinerlei erfreuliche Folgen: Aŋ stört die Nervenfunktion im Bereich des Hippocampus ganz erheblich.
Lange Zeit dachte man auch, dass eine Entzündungsreaktion bei der Alzheimer-Erkrankung wohl nur ein „Nebenprodukt“ der Krankheit wäre. Ein aktueller Artikel von Wissenschaftlern der Universität Southampton scheint ihr jedoch ebenfalls eine entscheidende Rolle im Fortschreiten der Krankheit zuzuweisen. Um die Plaques herum sammeln sich Mikrogliazellen, die für die Abwehr im Gehirn zuständig sind. Der CSF-1-Rezeptor sorgt für die Proliferation dieser Zellen. Durch Blockade dieses Moleküls verbesserten sich Gedächtnis und Orientierung von transgenen Alzheimer-Modellmäusen ohne dass die Anzahl der Plaques wirklich abnahm. Wie schwierig die Suche nach dem besten Angriffspunkt einer Therapie für die Veränderungen im Gehirn ist, zeigt auch eine Untersuchung Münchner Forscher mit einem neuen Antikörper gegen ß-Amyloid. Zwar verringerte sich die Zahl der Plaques, dafür nahm im Mausmodell aber auch die Zahl abnormal hyperaktiver Neuronen zu, die nach kurzer Zeit abstarben. Das erschreckendste daran: Selbst bei jungen Mäusen, die noch gar keine Plaques gebildet hatten, erschienen die sterbenden Nervenzellen. Nur früh zu behandeln, scheint also auch nicht immer das alleinige Erfolgsrezept zu sein. Dass die Zahl der Plaques und kognitive Leistungen nicht immer zusammenhängen, zeigt auch die so genannte „Nonnenstudie“. Die Ordensschwestern ließen sich nach ihrem Tod obduzieren und stellten sich davor für einen Vergleich ihrer geistigen Beweglichkeit mit dem Ausmaß von Amyloid-Ablagerungen zur Verfügung. Selbst bei den wirklich fitten Frauen zeigte sich eine erschreckend hohe Anzahl an Plaques.
Wie soll es nun weitergehen? In Deutschland leben etwa 1,5 Mio. Demenzkranke. Davon machen jene mit der Alzheimer’schen Erkrankung zirka zwei Drittel aus. Nach Angaben der Deutschen Alzheimer Gesellschaft müssen wir im Jahr 2050 mit etwa drei Mio. Patienten mit dieser Krankheit rechnen. Auf der anderen Seite arbeitet inzwischen jeder fünfte Neurowissenschaftler an den Befunden von Alois Alzheimer. Viele Millionen Euro fließen jährlich in neu errichtete Forschungszentren wie etwa das DZNE (Deutsches Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen). Große Hoffnungen setzen die Forscher inzwischen auf Datenbanken von Menschen die anscheinend einen genetischen Schutz gegen die Erkrankungen mitbekommen haben. Jeder zweihundertste Isländer besitzt eine Mutation in seinem Amyloid-Precursor, die ihm einen starken Schutz gegen die Krankheit verleiht. Umgekehrt gibt es auch eine Gruppe von Menschen mit familiär erhöhtem Risiko für diese Art der Demenz. An ihnen lässt sich der früheste Beginn der Krankheit studieren. Das Ziel wäre dann eine erste Therapie noch vor den ersten Symptomen des unnatürlichen Gehirnabbaus. „Vermutlich wird es das eine Medikament gegen Alzheimer niemals geben“ spekuliert der Leiter des DZNE in München, Christian Haass, „eine Kombinationstherapie ist viel wahrscheinlicher.“ Dennoch hoffen die Wissenschaftler auf ein wirksames Mittel innerhalb der nächsten 10 bis 20 Jahre. „Wir sind zuversichtlich wie noch nie“, zitiert die ZEIT einen der Pioniere der frühe Alzheimer-Forschung, Konrad Beyreuther aus Heidelberg, auch wenn eine Heilung wohl noch nicht so schnell möglich sein wird. Aber, so sagt eine Berechnung, selbst teure Medikamente würden sich schon dann rechnen, wenn die Pflege in einem Heim eineinhalb bis zwei Jahre später als zum heutigen Zeitpunkt beginnt.