Im privaten Kreis kann man sich über Frau Merkels Zitteranfälle austauschen, unter Ärzten auch gerne fachlich. Ob man diese Ferndiagnose dann aber ungefragt herausposaunen sollte, steht auf einem anderen Blatt.
Die Bundeskanzlerin hat in den letzten zwei Wochen nach längerem Stehen zweimal für wenige Minuten am ganzen Körper gezittert. Danach schien sie wieder ganz die Alte.
Die DocCheck-Redaktion hat mich nach dem zweiten Ereignis gefragt, ob ich aus neurologischer Sicht dazu Stellung nehmen möchte und könnte. Ich habe zunächst aus dem Impuls heraus abgelehnt, dass ich es generell für nicht seriös halte, aus der Ferne über den Gesundheitszustand anderer zu spekulieren und gar noch der Bundeskanzlerin. Dazu bin ich zuallererst einfach zu sehr klinisch geschult.
Es ist nämlich schlicht so, dass im Fall der Bundeskanzlerin weder mir noch anderen ärztlichen Kollegen, die anamnestischen Daten und der körperliche Befund zur Verfügung stehen, die beiden wesentlichen Informationssäulen, um zu einer Arbeitsdiagnose zu gelangen. Ich glaube auch, dass man davon ausgehen kann, dass die Bundeskanzlerin medizinisch in den professionellsten Händen ist. Insofern ist Schweigen hier allemal besser.
Deshalb wird an dieser Stelle von meiner Seite auch keine propädeutisch-differentialdiagnostische Erörterung der möglichen Ursachen für das Zittern der Bundeskanzlerin oder von Zittern generell erfolgen. Es ist möglich, dass hinter den Vorfällen mehr steckt als ein vorübergehender Zustand des Unpässlichseins. Das wird sich zeigen.
Warum ich mich dennoch entschlossen habe, etwas zu schreiben, ist die Tatsache, dass ich natürlich der Meinung bin, dass man sich privatim über den Zustand unserer Bundeskanzlerin so seine Gedanken machen darf und sogar sollte. In der Familie habe ich meine Spekulationen detailliert zum Besten gegeben; am Mittagstisch habe ich mit Kollegen verschiedener Fachdisziplinen darüber diskutiert, die mich angesprochen haben.
Frau Dr. Merkel ist jetzt im 14. Jahr ihrer Kanzlerschaft. Das hat mittlerweile einen nahezu monarchischen Charakter. Sie hat sich um Deutschland verdient gemacht. Das kann man konstatieren, unabhängig von der eigenen politischen Couleur. Da ist es einfach eine Frage des politischen Interesses, sich Gedanken über den Gesundheitszustand der politisch exponiertesten Person Deutschlands und der mächtigsten Frau der Welt zu machen. Aber nicht nur eine Frage des politischen Interesses, sondern ganz wesentlich eine Frage der respektvollen Empathie.
Man muß seine Gedanken aber nicht ungefragt oder gefragt herausposaunen. Vornehme Zurückhaltung, Verschwiegenheit und Taktgefühl sind Tugenden, die im Zeitalter der ungehemmten Zurschaustellung und der Pseudotransparenz einfach Avantgarde sind.
Bildquelle: Luke Rauscher, Flickr