Rettungsdienstmitarbeiter haben es nicht leicht, sie werden angepöbelt, bespuckt, beleidigt, mit Böllern beschossen oder mit Messern attackiert. Sicherlich Einzelfälle im Rettungsdienstalltag, aber die Fälle von Gewalt gegen Rettungsdienstmitarbeiter haben zugenommen.
„Mehrere Fahrzeuge wurden gezielt mit Raketen beschossen und mit Flaschen beworfen. Die Respektlosigkeit der Feiernden gegenüber der Feuerwehr und dem Rettungsdienst war erschreckend,“ so Veit Lenke, Hagens stellvertretender Feuerwehrchef, gegenüber der „Westfalenpost“. „Pardon, aber es geht tatsächlich um Idioten“, so ein anderer Artikel in derselben Zeitung. Um jene, die sich in der Silvesternacht den Leichtsinn antrinken, um dann mit Raketen oder Böllern Feuerwehrmänner, Polizisten oder Rettungssanitäter unter Beschuss zu nehmen. Um jene, die in nebliger Nacht auf Polizisten eindreschen oder Rettungsfahrzeuge unter Vortäuschung angeblicher Notfälle in Straßen locken und dann mit Raketen auf die Windschutzscheibe zielen. Feuerwehrleute und Rettungssanitäter sind die Helden des Alltags – doch sie werden im Einsatz immer öfter selbst zu Opfern. Die Angriffe auf Rettungskräfte seien gestiegen, sagt Ulrich Silberbach, Landesvorsitzender der Gewerkschaft für kommunale Beamte und Angestellte (komba) in Nordrhein-Westfalen, zu FOCUS Online.
Die Abgeordneten Andrea Oelschlaeger, Dirk Nockemann, Dr. Joachim Körner und Dr. Alexander Wolf stellten im August 2015 eine kleine Anfrage an den Hamburger Senat zum Thema Gewalt gegen Rettungskräfte. „Die Polizei registriert seit dem Jahr 2011 in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) Polizeivollzugskräfte und Rettungskräfte, die Opfer von Angriffen geworden sind“, so die Antwort des Senates. Die als Rettungsdienste tätigen Hilfsorganisationen führen keine Statistiken im Sinne der Fragestellung. Im Jahr 2014 wurden 51 Gewalttaten gegen Rettungskräfte dokumentiert, im ersten Halbjahr 2015 waren es 26 Delikte.
Um das tatsächliche Ausmaß der Gefährdung durch „Gewalt gegen Rettungskräfte“ genauer zu ermitteln, hat die Unfallkasse NRW die Ruhr-Universität Bochum beauftragt, eine Studie zur Sammlung und Analyse von Daten zur Gewalt gegen medizinisches Rettungsdienstpersonal durchzuführen. Immer häufiger berichten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des medizinischen Rettungsdienstes von Behinderungen und zum Teil gewalttätigen Übergriffen im Einsatz. Bei dieser ersten repräsentativen Studie wurden 2.048 Rettungsdienstmitarbeiter in NRW zu dem Phänomen „Gewalt gegen Rettungskräfte“ befragt. Die Rücklaufquote betrug 41 Prozent. Die Zugrundelegung einer rein juristischen Begriffsdefinition würde den Gegebenheiten der Einsatzrealität nicht genügend Rechnung tragen, sodass unter einem gewalttätigen Übergriff folgende Dimensionen erfasst wurden: Anspucken, Abwehr medizinischer Maßnahmen durch Wegschubsen oder an den Haaren ziehen, Bedrohung mit (vorgehaltenen) Waffen, körperlich-wirkende Gewalt im juristischen Sinn. Körperlich-wirkende Gewalt im juristischen Sinn und damit auch strafrechtlich relevant ist in diesem Zusammenhang lediglich die Körperverletzung. Eine Körperverletzung gemäß § 223 StGB begeht: „Wer eine andere Person körperlich misshandelt oder an der Gesundheit schädigt.“ Das Anspucken ist in aller Regel keine tatbestandliche Körperverletzung im Sinne des § 223 StGB, da nur kurzzeitig Ekel empfunden, nicht aber das körperliche Wohlbefinden beeinträchtigt wird. „Es stellt gemäß § 185 StGB nur eine Beleidigung dar, wenn das Tatopfer angespuckt wird und das dadurch hervorgerufene Ekelgefühl nicht erheblich und nach dem Abwischen alsbald abgeklungen war.“ Es zeigte sich, dass 98 Prozent der Rettungskräfte verbale Gewalt erlebt haben. Von Erfahrungen mit mindestens einem gewalttätigen Übergriff innerhalb eines Jahres berichteten 59 Prozent der Befragten.
Der weiter gefasste Gewaltbegriff schloss auch das Anspucken und Wegschubsen mit ein. Rechnet man diese heraus, bleibt als Ergebnis, dass 27 Prozent aller Befragten in den vergangenen 12 Monaten strafrechtlich relevante Delikte gegen die körperliche Integrität erlebt haben. In 52 Prozent der Fälle kam es während der Diagnose bzw. Therapie zu Übergriffen, sodass vermutet werden kann, dass es sich dabei meist um aggressives Abwehrverhalten von Patienten gehandelt hat und nicht um gezielte Angriffe. Großveranstaltungen wie Demonstrationen, Volksfeste oder Sportereignisse spielen keine herausgehobene Rolle. Verbale Gewalt oder Aggression ereignen sich genauso oft im privaten (45 Prozent) wie im öffentlichen Raum (49 Prozent). 43 Prozent der Vorfälle geschehen nachts. Mehr als jeder vierte Übergriff gegen Rettungskräfte mit 27,1 % Prozent ereignet sich in „bürgerlichen Wohngegenden“. Die meisten Täter sind zwischen 20 und 39 Jahren alt, männlich und oft alkoholisiert. Rund 55 Prozent stimmten der Aussage, dass die Ausbildung sie gut auf mögliche Konfliktsituationen im Einsatz vorbereitet habe, nicht zu. Die überwiegende Mehrheit der Befragten fühlt sich in der Ausbildung auf die Thematik nicht ausreichend vorbereitet. Gewünscht werden regelmäßige Fortbildungen in Selbstverteidigung (77 Prozent), Deeskalation (68 Prozent) sowie Drogen/ Suchtmittelwirkungen (64 Prozent). In den Ausführungsbestimmungen zum neuen Berufsbild des Notfallsanitäters steht Kommunikation und Deeskalation im Lehrkatalog der Curriculums. Dieser 3-jährige Lehrberuf wird langfristig den Rettungsassistenten ablösen und ist mit mehr Fachwissen und Kompetenz ausgestattet. Der Umfang der Tätigkeit ist nicht gesetzlich geregelt, sondern wird vom ärztlichen Leiter Rettungsdienst individuell festgelegt.
Auch die zwischenzeitlich verschärften Paragraphen 113 und 114 StGB „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und gegen Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen“ haben die Bochumer Juristen in ihre Untersuchung eingeschlossen. Das Rettungsdienstpersonal wird, was Angriffe angeht, Vollstreckungsbeamten gleichgestellt. Die Studienautoren geben anhand der Ergebnisse zu Bedenken, dass der Nutzen der Gesetzesänderung von 2011 hinsichtlich einer verbesserten Sicherheit für die Rettungskräfte doch stark bezweifelt werden kann. „Ich denke, vor 20 Jahren war Gewalt gegen Rettungskräfte ein absolutes Tabu, man merkt so, der Gesellschaftswandel in den letzten Jahren trägt dazu bei, dass alles, was eine Uniform hat, ein Feindbild für manche Leute in der Bevölkerung ist. Uniform ist Staat, Staat ist blöd und die kommen zwar eigentlich zum Helfen, aber Nö. Ich denke, das ist ein gesellschaftlicher Wandel“, so ein Studieninterview mit einem Betroffenen.
Nach einer Studie von Dombrowsky et al. [Paywall] kommt es bei zirka 47 Prozent aller Einsätze im Rettungsdienst zu Aktivitätsformen, die von Einsatzkräften als „Gewalt“ bezeichnet werden. Nach seinen Erkenntnissen werden die Unterschiede zwischen Stadt und Land geringer und der einst öffentliche Charakter von Gewalt privatisiere sich zunehmend. Beim Deutschen Roten Kreuz (DRK) bestätigt man die wachsende Aggressivität. „Respekt und Achtung sinken flächendeckend“, sagt Udo Bangerter, Sprecher des Landesverbandes Baden-Württemberg.
Polizeivollzugsbeamte – sowie Vollstreckungsbeamte insgesamt, Zoll-, Justizvollzugs- und sonstige Vollstreckungsbeamte sowie Rettungsdienstkräfte insgesamt (Feuerwehr- und sonstige Rettungsdienstkräfte) können seit 2011 nicht mehr nur als Opfer von Widerstandsdelikten, sondern umfassender als Opfer von Gewaltdelikten erfasst werden. Gemäß PKS-Richtlinien erfolgt die Erfassung der Merkmale der „Geschädigtenspezifik“ unter der Bedingung, dass die Tatmotivation in den personen-, berufs- bzw. verhaltensbezogenen Merkmalen begründet ist oder in Beziehung dazu steht. Das Bundeskriminalamt hat in der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) für das Jahr 2014 insgesamt 222 Rettungsdienstkräfte als Opfer von Gewaltkriminalität registriert. Infolge gefährlicher und schwerer Körperverletzung wurden 214 Rettungsdienstkräfte angegriffen. Im Jahr 2013 waren es noch 194 Rettungsdienstkräfte als Opfer von Gewaltkriminalität, 192 Rettungsdienstkräfte wurden infolge gefährlicher und schwerer Körperverletzung angegriffen.
Die Einführung einer speziellen Schutzweste für den medizinischen Rettungsdienst lehnen die meisten Befragten der Bochumer Studie ab. Lediglich 18 Prozent der Befragten befürworten die Einführung einer solchen Schutzweste. Teilweise hat der Rettungsdienst in Nürnberg bereits Stichschutzwesten eingeführt. Allein dort wurden in sieben Monaten 70 Fälle von Gewalt gegen Helfer registriert. Die Abteilung „Schutz und Rettung“ des Polizeidepartments in Zürich registrierte allein im ersten Quartal 2010 rund 90 Übergriffe auf Sanitäter und leitete Gegenmaßnahmen ein: Neben Fortbildungsangeboten wie einem Deeskalationstraining dürfen sich die Rettungssanitäter in Zürich auf freiwilliger Basis mit Pfefferspray ausrüsten. „Es handelt sich dabei um das gleiche Spray, wie es die Polizei verwendet“, erklärt Roland Portmann, Sprecher von „Schutz und Rettung“ in Zürich. Voraussetzung ist, dass die Sanitäter hierfür die gleiche polizeiliche Ausbildung zum sicheren Einsatz des Sprays durchlaufen. Zudem muss jeder Einsatz des Sprays schriftlich dokumentiert werden. „Bislang haben wir damit gute Erfahrungen gemacht“, weiß Portmann. Das Spray wird sichtbar am Gürtel getragen. „Längst nicht alle Sanitäter tragen Pfefferspray bei sich. Die Meinungen sind hierzu geteilt. Die Mitarbeiter sind frei, das selbst zu entscheiden.“