Nirgendwo in Europa werden so viele Bluttransfusionen verbraucht wie in Deutschland. Eine Studie zeigt: Wenn es Ärzten gelingt, die Blutwerte der Patienten noch kurz vor der Operation zu optimieren, sind Fremdblutkonserven häufig unnötig.
In Deutschland führen Ärzte etwa vier bis fünf Millionen Bluttransfusionen im Jahr durch. Damit liegt es im internationalen Vergleich auf einem der Spitzenränge. Viele Mediziner sagen: Das ist eindeutig zu viel. Denn das System leidet unter drastischen Problemen. Ein hoher Verbrauch an Erythrotytenkonzentrat (EK) ist nicht nur aufgrund knapper Blutspenden kritisch. Vielmehr stehen Transfusionen mit unterschiedlichen gesundheitlichen Risiken für den Empfänger in Verbindung. Blutkonserven belasten Patienten außerdem zu einem Zeitpunkt, in dem ihr Immunsystem schon massiv mit Krankheitserregern oder Wundheilung zu tun hat.
Ärzte suchen deshalb nach Möglichkeiten, den Einsatz von Bluttransfusionen zu reduzieren. Wie kann das gelingen?
Höhere Morbidität und Mortalität
Jens C. Kubitz. Foto: UKE„Man muss sich immer vor Augen führen, dass Blutbestandteile zu einer Immunantwort führen“, sagt Professor Dr. Jens C. Kubitz im Gespräch mit DocCheck. Er ist stellvertretender Klinikdirektor der Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie,Zentrum für Anästhesiologie und Intensivmedizin, am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Selbst bei kompatiblen Spendern und Empfängern kann es zu nichthämatolytischen Transfusionsreaktionen bis zur Anaphylaxie kommen. Und das transfusionsassoziierte akute Lungeninsuffizienzsyndrom tritt mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 zu 20.000 bis 1 zu 100.000 auf. Dabei werden Lungengefäße geschädigt, und es kommt zum Lungenversagen.
Über Assoziationen mit Schlaganfällen wurde ebenfalls in der Literatur berichtet. Nicht zuletzt gibt es Kubitz zufolge ein kleines, aber doch vorhandenes Infektionsrisiko durch Blutkonserven. HIV (1 zu 1.000.000) oder Hepatitis B (1 zu 500.000) gehören zu den Seltenheiten. Cytomegalie- (Risiko 1 zu 10 bis 1 zu 30) und Epstein-Barr-Viren (1 zu 200) stellen jedoch für immunsupprimierte Patienten ein Problem dar.
Wie lassen sich solche Risiken minimieren und die Nutzung von Fremdblut gleichzeitig verringern? Ein Lösungskonzept ist das sogenannte Patient Blood Management (PBM). Es wurde zunächst an den Universitätskliniken Frankfurt, Bonn, Kiel und Münster eingeführt. Zahlreiche weitere deutsche Kliniken haben seitdem Konzepte zum PBM umgesetzt. Seit 2011 fordert die Weltgesundheitsorganisation die Einführung von PBM in den medizinischen Alltag. Das sind die drei wichtigsten Maßnahmen im Überblick:
Grafik: Universitätsklinikum Frankfurt
1. Anämien wirksam behandeln
Dazu gehören wirksame Maßnahmen gegen eine Anämie: Gibt es bislang unentdeckte Grunderkrankungen, etwa Morbus Crohn, Colitis ulcerosa, unentdeckte Blutungen oder eine fehlerhafte Ernährung? Ziel des PBMs ist es, die Patienten optimal auf die Operation vorzubereiten sowie Blutverluste während des Krankenhausaufenthalts bestmöglich zu reduzieren. Bei etwa jedem dritten Patienten steckt ein Eisenmangel hinter der Blutarmut. Um pharmakologisch gegenzusteuern, nennt die zugehörige Leitlinie eine orale Eisensubstitution für mindestens drei Monate. In älteren Studien werden zwei bis vier Wochen als Zeitraum genannt. Prof. Donat R. Spahn vom Institut für Anästhesiologie, Universitätsspital Zürich, berichtet in einer kürzlich veröffentlichten Studie, dass Patienten auch von Kurzzeit-Interventionen profitieren.
Zusammen mit Kollegen untersuchte Spahn 1.006 Patienten mit einer geplanten Herz-OP. Bei 505 von ihnen wurden eine Anämie und/oder ein Eisenmangel diagnostiziert. Diese Untergruppe ordneten Forscher randomisiert einem Placebo- sowie einem Verum-Arm zu. Als Intervention erhielten die Teilnehmer einen Tag vor dem Eingriff intravenös Eisen, subkutan Vitamin B12 und Erythropoietin alpha sowie oral Folsäure. Sie hatten deutlich bessere Hämoglobin- und Reticulozytenwerte als die Kontrollgruppe und benötigten bei der Operation sowie in den sieben Folgetagen im Median keine Bluttransfusionen. In der Kontrollgruppe war es im Median eine Einheit pro Patient. „Unsere Studie bestätigt, dass wir auch mit einer kurzfristigen präoperativen Behandlung die Blutwerte der Patienten noch massiv verbessern können“, kommentiert Spahn im Paper. Wie bewerten Kollegen aus der Praxis die Veröffentlichung?
„Argument für Kurzzeit-Intervention“
„Die Autoren sind bekannte Experten – gerade Donald Spahn hat schon viel im Bereich des blutsparenden Arbeitens veröffentlicht“, sagt Kubitz. „Insofern überrascht es nicht, dass es sich um eine methodisch sehr gute Arbeit handelt.“ Konkret nennt er die große Zahl an eingeschlossenen Patienten und das Design in Form einer randomisierten, placebokontrollierten Studie als klare Stärken der Veröffentlichung. Offen bleibt: „Wir können nicht sagen, auf welche der vier Substanzen der Benefit zurückzuführen ist“, gibt der Experte zu bedenken. „Wahrscheinlich ist es die Gesamtheit aller Arzneistoffe.“
Was die Herzchirurgie angehe, handelte es sich bei der Kohorte um mittelschwere Erkrankungen und Eingriffe mittlerer Komplexität. Dazu zählten Bypässe, Klappeneingriffe oder Kombinationen beider OPs. Bei der detaillierten Betrachtung fällt Kubitz auf, dass Patienten mit Anämie recht hohe Hämoglobinspiegel von 128g/l bis 129g/l hatten. „Verglichen mit dem Patientenkollektiv in der Herzchirurgie sind die Werte aber recht gut und eher an der oberen Grenze einer Anämie“, sagt der Experte.
Er fasst zusammen: „Der Studie zufolge macht es Sinn, präoperativ noch eine kurzfristige Behandlung der Anämie durchzuführen.“ Dies sei wichtig, denn häufig sehe man Patienten einen Tag vor der OP, mit Wochenende seien es vielleicht drei Tage. „Der Aspekt orientiert sich bewusst an der Praxis.“ Zuvor habe man vermutet, Interventionen seien nur mit mehrwöchigem Vorlauf möglich. „Jetzt haben wir ein Argument für Kurzzeitinterventionen und eine wichtige Arbeit für die tägliche Praxis.“
2. Blutsparend operieren, Verluste minimieren
Damit ist es in der Praxis aber nicht getan. Wichtig ist es außerdem, so Kubitz, den intraoperativen Blutverlust zu minimieren. Ärzte operieren – soweit möglich – minimalinvasiv. Auch das optimale Gerinnungsmanagement spielt eine Rolle. Bei größeren perioperativen Blutverlusten ist die Wiederaufbereitung von Wundblut über eine maschinelle Autotransfusion sinnvoll. Nicht zuletzt sollten Blutentnahmen zu diagnostischen Zwecken auf ein erforderliches Maß beschränkt werden. Blutentnahmeröhrchen mit dem kleinsten zur exakten Analyse benötigten Volumen helfen, Verwürfe zu minimieren. Besonders für die Intensivstation bzw. die Pädiatrie ist dieser Aspekt wichtig.
3. Sinnvolle Transfusionskonzepte
Nicht zuletzt hält es Kubitz für sinnvoll, die Anämietoleranz auszuschöpfen. „Das heißt, wir transfundiern in der Regel bei Hb unter 8 g/dl und kardiopulmomalen Symptomen wie einer Tachykardie bzw. einer Hypotension oder Zeichen einer unzureichenden Sauerstoffversorgung wie einer myokardialen Ischämie oder einer Laktatazidose“, berichtet der Experte. Viele Patienten tolerieren Hb-Werte zwischen 6,0 und 8,0 g/dl. Bislang konnte nicht gezeigt werden, dass sie von höheren Spiegeln, sprich 9,0 bis 11,0 g/dl, hinsichtlich der Morbidität profitieren. „Damit spricht viel für den rationalen Einsatz von Bluttransfusionen“, fasst Kubitz zusammen. Weniger ist manchmal eben doch mehr.
Wie sich dieße Maßnahmen konkret auswirken können, zeigte eine im Februar 2017 veröffentlichte Untersuchung von vier großen Kliniken des Bundesstaats Westaustralien. Nachdem in den sechs Jahren von 2008 bis 2014 mehr als 600.000 Patienten nach dem Konzept des PBMs behandelt worden waren, zeigte sich ein Rückgang der Krankenhaussterblichkeit um 28 Prozent. Außerdem gab es insgesamt 31 Prozent weniger Herzinfarkte und Schlaganfälle und 21 Prozent weniger Krankenhausinfektionen. Der Verbrauch von Blutkonserven konnte um 41 Prozent reduziert werden. Nicht zu vernachlässigen ist auch der finanzielle Aspekt: Die Blutbeschaffungskosten konnten im Untersuchungszeitraum um mehr als 18 Millionen US-Dollar reduziert werden.
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