„Könnte es nicht doch die Halswirbelsäule sein?“ Der Neurologe gibt sich viel Mühe, dem Patienten komplexe Krankheitsbilder zu erklären. Am Ende bleibt trotzdem nur diese eine Frage. Woher kommt die Wirbel-Besessenheit des Deutschen?
Es läuft eigentlich alles nach der immergleichen Dramaturgie ab. Der Neurologe ist redlich bemüht, dem Patienten einen komplexen Zusammenhang in gut verständlichen Worten zu erklären: Zum Beispiel die Möglichkeit des Persistierens eines ungerichteten, diffusen Schwindels über wenige Tage bis Wochen nach einer akuten und heftigten Drehschwindelepisode eines benignen, paroxysmalen Lagerungsschwindels, in dem er auf ein komplexes Zusammenspiel organischer und psychischer, zentraler wie peripherer Prozesse verweist.
Die Lagerungsmanöver sind erklärt. Der Patient hat diese unter Anleitung durchgeführt und dann, eigentlich am Ende angelangt, wird sich wie bei Inspektor Columbo kurz vor dem Verlassen des Zimmers nach einem vordergründig beiläufig geführten Gespräch mit dem Verdächtigen nochmals in legendärer Weise umgedreht und die alles entscheidende Frage gestellt: Herr Doktor, ich habe nochmal eine Frage. „Könnte es nicht auch von der Halswirbelsäule kommen?“
Wie beim Inspektor stürzt auch hier ein mühsam aufgebautes Kartenhaus vollständig in sich zusammen. Manchmal folgt die Frage auch auf eine präzise Anamnese von Kopfschmerzen, die bei diesem Krankheitsbild fast alles klärt, wobei man sagen muß, dass ca. 80 Prozent aller Kopfschmerzen in die Kategorie Migräne und/oder Spannungskopfschmerz fallen. Gern werden auch Befindlichkeitsstörungen aller Art mit der HWS in Zusammenhang gebracht, wobei diese sicher 10 bis 20 Prozent der Patienten in einer normalen neurologischen Praxis ausmachen.Selbst in einem Fall wie der Multiplen Sklerose, diesem genuin neurologischen Krankheitsbild, werden Taubheitsgefühle oder Parästhesien, auch wenn sie beispielsweise das Gesicht miteinbeziehen und keiner normalen Dermatomverteilung folgen, gern der HWS zugeordnet und erstmal physiotherapiert.
Oder das sehr einfach zu diagnostizierende Karpaltunnelsyndrom, bei dem sich der Patient häufig mit einem ergebnislosen MRT der HWS präsentiert. Meist sind die charakteristischen Parästhesien im Daumen, sowie Zeige- und Mittelfinger durch einen kurzen Druck auf das Retinaculum Flexorum auslösbar und die Diagnose ist klar. Man muß natürlich die elementaren Untersuchungstechniken kennen und auch anwenden und nicht reflexartig Bildgebung verordnen. Vor allem lohnt sich ein fokussiertes Anamnesegespräch mit dem Patienten. Nichtsdestotrotz endet das Bemühen des Neurologen sehr häufig mit der einen Frage.
Den Anfänger ereilt diese Wendung wie ein Donnerschlag, der sein Blut in Wallung bringt und er macht daraufhin vielleicht gar eine unbedachte Bemerkung, wie beispielsweise die, dass das mit der HWS dem Patienten bestimmt irgendein Osteopath oder so eingeredet habe und damit wird die Sache nur noch schlimmer. Das sprichwörtliche Pünktchen auf dem I wird hier durch folgende Bemerkung des Patienten hinzugefügt: „Also, mein Orthopäde hat auch gemeint, dass meine Halswirbelsäule wirklich nicht gut aussieht, also wirklich!“ An diesem Punkt ist dann kaum noch etwas zu gewinnen. Jetzt wallt das Blut nicht mehr nur, sondern es kocht; ein Arsenal negativer Emotionen wird geweckt, besonders Neid und Eifersucht; denn noch nie hat der deutsche Patient in solch zärtlicher Weise von „seinem“ Neurologen gesprochen. Warum ist das so?
Beginnen wir, bevor wir uns dem Orthopäden zuwenden, zunächst nun doch mit der Halswirbelsäule, diesem kleinen, konstruktiven, aus sieben Einzelteilen bestehenden Element, das den Kopf mit dem Rest des Körpers verbindet. Rundschwanzseekühe und das Hoffmann-Zweifingerfaultier (Choloepus hoffmanni) besitzen im Übrigen als einzige Säuger nur sechs Halswirbel. Eine Information, die an dieser Stelle vollkommen überflüssig ist – immerhin ist diese Tatsache vermutlich weniger Orthopäden als Neurologen bekannt ist – ich fand sie aber trotzdem so hübsch, dass ich diesen Fakt einfach aus Wikipedia plagiiert habe.
Die HWS ist jedenfalls für alle nur denkbaren Morbi verantwortlich: von Kopfschmerz, über Schwindel, Depression, Burnout oder Gedächtnisstörungen, um nur eine kleine Auswahl dessen zu nennen, was den Patienten häufig so beutelt, gibt es eigentlich nichts, was hier nicht nur seinen sprichwörtlichen, sondern seinen ganz konkreten Dreh- und Angelpunkt findet. Da wird massiert und geknetet, gereckt und gestreckt, relaxiert sowie ante- und retroflektiert, Blockierungen werden behoben, Faszienverklebungen werden gelöst, kurzum ein kaum überschaubarer Maßnahmenkatalog kommt zur Anwendung. Darunter auch viele segensreichen Wirkungen, keine Frage. Ich selber verordne regelmäßig aus diesem Spektrum.
Trotzdem frage ich mich, woher die Halswirbelsäule ihren so unvergleichlich famosen Ruf hat und ich glaube, dass ich das Rätsel durch ebenso langes wie intensives Nachdenken zumindest ansatzweise gelöst habe. Ich glaube, es hat etwas mit dem tiefen Bedürfnis des Teutonen nach Ordnung, Stabilität und harmonischer Funktion zu tun, außerdem mit seiner Verehrung solide gearbeiteter, konkreter Dinge. Stellvertretend sei hier der Geschirrkorb einer Miele-Spülmaschine genannt, in den sich das Geschirr wie von selber einordnet und der selbst nach fast 20 Jahren immer noch so ruhig und wackelfrei wie am ersten Tag auf seinen Schienen dahingleitet.
Eine HWS, die so sehr spannt und schmerzt und knackt, dass es nicht zum Aushalten ist, die Verschleißerscheinungen zeigt, die auch noch ein jeder sehen und fühlen kann, die muss doch etwas mit dem Unwohlsein im Leben des Betroffenen zu tun haben. Und die muss doch um Himmelswillen in Ordnung gebracht werden.
Genau an dieser Stelle kommt, wie von Geisterhand gerufen, der Orthopäde ins Spiel, der sich nicht lange mit oberstreberhaften Erklärungen aufhält, sondern Linderung verspricht und erzielt, indem er injiziert und relaxiert, bestrahlt, vibriert, magnetisiert, mesmerisiert, hypnotisiert, elektrisiert, stabilisiert und dekomprimiert. Einer, der nicht nur redet, sondern etwas tut, das ist genau der Richtige! Er ist der braungebrannte Beau, der im offenen Cabriolet daherkommt, von Frauen umschwärmt, während der Neurologe blass und fröstelnd auf einer Parkbank am Rande sitzt, weil keine der Damen auch nur im Entferntesten von ihm Notiz nimmt.
Dass bei der Behandlung der HWS die Verknüpfung von Ursache und Wirkung nicht so genau genommen wird, die Evidenz- durch Eminenzbasierung ersetzt wird, wen kümmert‘s? Wer heilt, hat recht. Und wer viel verdient, der ist ein Burner. Deshalb wollte meine Mutter auch, dass ich das chirurgische Fach ergreife, hat leider nicht geklappt.
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