Pfizer soll verschwiegen haben, dass eines seiner Medikamente Alzheimer vorbeugen kann. Das Unternehmen glaubte nicht an den zufällig entdeckten Effekt und entschied sich gegen eine klinische Studie. So berichten US-Medien. Was ist dran an der Story?
Das Unternehmen Pfizer steht seit einigen Tagen im Fokus der US-Berichterstattung. Der Pharmariese soll Patienten ein möglicherweise hochwirksames Medikament vorenthalten, wie die Washington Post als erste berichtete. Es geht um die Bekämpfung von Alzheimer. Mitarbeiter von Pfizer in Pennsylvania haben bei der statistischen Analyse anonymer Daten von Versicherten einen positiven Nebeneffekt des Blockbusters Enbrel® (Etanercept) entdeckt: Sie stellten fest, dass das Medikament Alzheimer vorbeugen könnte. Die Daten zeigten, dass Etanercept das Alzheimer-Risiko um 64 Prozent senken würde.
Die Untersuchungen begannen bereits vor vier Jahren: Die Statistiker hatten Daten aus dem Jahr 2015 von Hunderttausenden Krankenversicherten mit rheumatoider Arthritis und anderen entzündlichen Erkrankungen untersucht. Sie teilten die Patienten in zwei gleiche Gruppen von je 127.000 Personen mit und ohne Alzheimer-Diagnose ein. Dann überprüften sie, wie viele Menschen Etanercept bekommen hatten, und stellten fest, dass in der Gruppe ohne Alzheimer-Erkrankung mehr Menschen mit Etanercept behandelt worden waren: 302 im Gegensatz zu 110 Personen in der Alzheimer-Gruppe. Das Pfizer-Team untersuchte dann auch die Zahlen für Humira, ein Medikament von AbbVie, das wie Enbrel® wirkt, und kam zu ähnlichen Ergebnissen.
Die Wissenschaftler waren von den Ergebnissen sehr überrascht. Sie forderten Pfizer dazu auf, klinische Studien zu veranlassen, damit die Wirkung von Etanercept auf die Entstehung und das Fortschreiten bei Alzheimer untersucht werden würde. Doch dazu kam es nicht. Der Vorschlag wurde seitens des Unternehmens abgelehnt und die Daten blieben geheim, wie Christopher Rowland von der Washington Post berichtete.
Wie lässt sich die Entscheidung von Pfizer erklären?: Enbrel® wurde bereits 1998 von der FDA zugelassen. Laut „Washington Post” werfen Kritiker dem Pharmakonzern vor, nicht weiter investiert zu haben, da das auf 20 Jahre begrenzte Patent für Enbrel® kurz vor dem Auslaufen stand. Das 1998 zugelassene Medikament wurde für die Behandlung von rheumatoider Arthritis freigegeben. Biosimilars sind seit 2015 in den USA und seit 2016 in der EU auf dem Markt.
Für das Pharmaunternehmen besteht deshalb keine Möglichkeit, an einer neuen Indikation exklusiv zu verdienen, sodass sich die Investition von schätzungsweise 80 Millionen US-Dollar für eine langwierige klinische Studie nicht auszahlen würde. Anfang 2018 hatte Pfizer bekanntgegeben, die Forschung an Alzheimer-Medikamenten komplett einzustellen. Das Geld wolle man künftig dort investieren, wo größere Erfolgschancen beständen.
Solche Strategieentscheidungen werden in der Pharmaindustrie häufig getroffen. In diesem Fall handelt es sich jedoch um eine Entscheidung, die in der Öffentlichkeit sehr kritisch betrachtet wird, denn die Alzheimererkrankung ist weit verbreitet – viele Betroffene und Angehörige warten dringend auf Hilfe. Es gibt nach wie vor keine wirksame Therapie, obwohl weltweit geforscht wird.
Pfizer hat bereits mit einer Gegendarstellung in der New York Post geantwortet: „Unsere Entscheidung, keine umfassendere klinische Studie durchzuführen, basierte in erster Linie auf wissenschaftlichen Überlegungen und nicht auf finanziellen Anreizen.“ Man habe sich gegen die Veröffentlichung der Daten entschieden, da Zweifel an den Ergebnissen bestanden: In einem dreijährigen internen Review habe man festgestellt, dass das Medikament das Gehirngewebe nicht erreiche und eine klinische Studie wahrscheinlich nicht erfolgreich verlaufen würde.
In einer kleinen Studie an 41 Alzheimer-Patienten gab es mit Etanercept keine statistisch signifikanten kognitiven Veränderungen oder Effekte auf das Verhalten oder allgemeine Funktionen. Diese Ergebnisse stehen im Gegensatz zu einer Analyse von Patienten mit rheumatoider Arthritis, die mit verschiedenen entzündungshemmenden TNF-Inhibitoren behandelt wurden: Darin zeigte sich speziell bei der Behandlung mit Etanercept ein deutlich reduziertes Auftreten der Alzheimer-Erkrankung (OR: 0,33; 95 % CI, 0,08–0,94; p = 0,03).
Einen kritischen Blick auf die derzeitige Berichterstattung wirft Derek Lowe mit seinem Blogbeitrag: „A Missed Alzheimer’s Opportunity? Not So Much.“ Nach seinen Informationen liegen der oben genannten Studie dieselben Versicherungsdaten zugrunde wie der internen Untersuchung bei Pfizer – seiner Einschätzung nach sind die angeblich geheimen Daten von Pfizer gar nicht so geheim, kommentiert der Biochemiker und Branchenkenner.
Obwohl es weitere Hinweise darauf gibt, dass eine Verbindung zwischen TNF-Inhibitoren und der Entwicklung und dem Fortschreiten von Alzheimer besteht, würden sich interne und externe Wissenschaftler eine Veröffentlichung der Pfizer-Daten wünschen: „Es wäre für die Wissenschaft von Vorteil, diese Daten zur Verfügung zu haben“, sagte Keenan Walker, Assistant Professor für Medizin bei Johns Hopkins. Er untersucht, wie Entzündungen zu Alzheimer beitragen. „Egal, ob es sich um positive oder negative Daten handelte, es liefert uns mehr Informationen, um fundiertere Entscheidungen treffen zu können.“
Robert I. Field, Professor für Rechts- und Gesundheitsmanagement an der Drexel-Universität ist der Meinung: „Eine medikamentöse Therapie gegen Alzheimer im Frühstadium wäre ein Glücksfall für amerikanische Patienten, daher sollten wir alles in unserer Macht Stehende tun, um die Entwicklung von Therapien zu fördern. Es ist frustrierend, wenn eine Gelegenheit verpasst wird.“
Artikel von Karen ZoufalBildquelle: Tristan Ferne, flickr