Bahnbrechende Erkenntnisse über Krankheiten setzen klinische Studien voraus. Britische Behörden setzen deshalb massiv auf die Forschung – und hängen uns Deutsche ab. Was genau läuft auf der Insel anders als bei uns?
Bei der Arzneistoffforschung stehen amerikanische Firmen wenig überraschend ganz vorne auf der weltweiten Rangliste (2.305 Studien pro Jahr), gefolgt von Großbritannien (596) und Deutschland (565). Alle Daten gehen auf Analysen des Studienregisters clinicaltrials.gov zurück. Auf den ersten Blick scheint der Unterschied zwischen Großbritannien und Deutschland nicht so groß zu sein. Allerdings ist die Teilnehmerzahl in britischen Studien deutlich höher als hierzulande und das führt zu aussagekräftigeren Ergebnissen. Stellt sich die Frage: Warum schneidet Großbritannien derart gut ab?
Zahl an eingeschlossenen Patienten stieg
Dazu ein paar Details. Zwischen 2012 und 2017 hat sich die Zahl an klinischen Studien in Großbritannien trotz einiger Schwankungen nicht signifikant verändert. Doch die Zahl an eingeschlossenen Patienten stieg. Im letzten Jahr waren es 870.000 Menschen. Das entspricht einem Plus von 140.000 Teilnehmern, gemessen am Vergleichszeitraum 2017.
Zu den wichtigsten Indikationen zählen aktuell die Pädiatrie (81.892 Teilnehmer), die Reproduktionsmedizin inklusive Gynäkologie (74.128), die Krebsforschung (67.652) und die Psychiatrie (65.645). Es geht um Untersuchungen zur Versorgungsforschung, aber auch um neue Arzneistoffe, meist sind das Orphan Drugs.
Woran liegt es, dass sich Patienten in UK derart oft für die Teilnahme an klinischen Studien entscheiden? Das zuständige National Institute of Health Research (NIHR) führt seinen Erfolg auf unterschiedliche Maßnahmen zurück:
Die Herangehensweise klingt sehr strategisch, ist aber nur ein Teil der Wahrheit. „Der Brexit war ein Katalysator für Veränderungen im klinischen Forschungsumfeld in Großbritannien“, kommentiert James Brook. Er ist Head of UK and Ireland Clinical Delivery bei IQVIA, einem Anbieter von Wissensdienstleistungen und Services. Dies habe zur signifikanten Steigerung der Forschungstätigkeit geführt. Tatsache ist aber, dass es auch schon vor dem 23. Juni 2016, dem Brexit-Votum, viel Interesse gegeben hat. Seit der umstrittenen Entscheidung geht die Zahl eindeutig weiter nach oben. Warum das so ist, lässt sich nicht eindeutig sagen. Vielleicht hoffen Patienten auf eine bessere Versorgung im klinischen Umfeld. Vielleicht liegt es aber auch am britischen System selbst und der Weise, wie man auf Versicherte zugeht.
Deutschland an dritter Stelle – mit Luft nach oben
Angesichts solcher Impulse sieht Deutschland – weltweit lange Zeit auf Platz zwei – im Vergleich eher alt aus. Immerhin, wir liegen bei klinischen Studien weltweit auf Platz drei und sind laut Verband Forschender Arzneimittelhersteller (vfa) immer noch „einer der führenden Forschungsstandorte“.
Das bestätigt Prof. Dr. Martina Brockmeier, Vorsitzende des Wissenschaftsrates: „Erfreulich ist, dass die Industrie Deutschland nach wie vor als Standort vor allem für Arzneimittelstudien sehr schätzt.“ Gleichzeitig sieht sie Defizite beim Status quo: „Wo wir noch stärker werden müssen, das ist im Bereich klinischer Studien, die zunächst keine kommerzielle Verwertung versprechen: Studien, die wichtige Fragen aus der Versorgung adressieren, etwa die Frage, welche von mehreren verschiedenen Therapieoptionen die beste für den Patienten oder die Patientin ist.“
Gemessen an herausragend publizierten klinischen Studien nehme die deutsche Forschung im Vergleich mit wichtigen Referenzländern (Vereinigtes Königreich, Niederlande, USA) keine internationale Spitzenposition ein, heißt es in einer Stellungnahme.
Grund genug für den Wissenschaftsrat, zusammen mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) verschiedene Empfehlungen zu erarbeiten:
Studien per Smartphone
Alle Organisatoren klinischer Studien haben ohnehin die gleichen Probleme. In etwa 80 Prozent aller Fälle gelingt es ihnen nicht, die statistisch erforderliche Mindestzahl an Teilnehmern zu rekrutieren. Solche Verzögerungen gehen schnell ins Geld. Experten sprechen von bis zu 1,3 Millionen US-Dollar pro Tag.
Doch Hilfe naht: Digitale Workflows verringern nämlich Barrieren für Teilnehmer. Beispielsweise hat Novartis mit Apples Research Kit die App „FocalView“ entwickelt. Zielgruppe sind Patienten mit Augenerkrankungen, die in ihrer Mobilität naturgemäß stark eingeschränkt sind. Der Hersteller hofft, mit FocalView leichter an Teilnehmer für ophthalmologische Studien zu kommen.
Moderne Technologien ersparen es Patienten auch, regelmäßig ein Studienzentrum zu besuchen. Gerade Menschen mit schweren Erkrankungen fallen solche Reisen schwer. Bei virtuellen klinischen Studien reduzieren Ärzte die Zahl an Vor-Ort-Terminen auf ein Minimum. Patienten erhalten Wearables, um ihre Vitalparameter an eine sichere, virtuelle Studienplattform zu übertragen.
Über die Portale halten Patienten auch Kontakt zum Studienteam – oder Ärzte stellen Rückfragen. Damit steigern virtuelle klinische Studien die Chance, alle Vorgaben des Studiendesigns im vordefinierten Rahmen einzuhalten.
Altruismus trifft Opportunismus
Ob Teilnehmer direkt von einer Studie profitieren, hängt vom konkreten Fall ab. Handelt es sich um eine Phase-I-Studie, werden nur gesunde Probanden rekrutiert, um Daten über die Sicherheit, den Stoffwechsel oder das Wirkprofil zu sammeln. Wer sich beteiligt, ist entweder altruistisch veranlagt oder freut sich über die Aufwandsentschädigung.
Patienten im Sinne der späteren Zielgruppe sind erst in der Phase II gefragt. Handelt es sich wie so oft um eine randomisierte, placebokontrollierte Studie, bekommen sie beispielsweise das neue Medikament plus eine Standardtherapie oder wirkstofffreie Pillen plus eine Standardtherapie. Wem es durch die Studienteilnahme vielleicht besser geht und wem nicht, bleibt dem Zufall überlassen.
Als Argument für eine Teilnahme nennen Firmen meist die gute medizinische Betreuung im Studienzentrum, die ja allen Personen zukommt. Das mag stimmen, sollte aber auch ansonsten Standard sein.
Tatsächlich gibt es Ausnahmen von der Regel, und zwar bei Arzneistoffen zur Therapie seltener Erkrankungen (Orphan Drugs). Fehlen Vergleichstherapien, erhalten alle Patienten Verum. Oft umfassen die Studien trotz ihres multizentrischen Designs nur 100 Patienten. Das war etwa bei der CAR-T-Zell-Therapie mit Kymriah® (Tisagenlecleucel) zur Therapie rezidivierender bzw. therapierefraktärer Leukämien der Fall. Alle Teilnehmer kamen in den Genuss einer neuen Therapie, mussten aber auch das Risiko gefährlicher Nebenwirkungen tragen. Gesetzliche Vorschriften bieten keinen hundertprozentigen Schutz.
Wenig Umsatz – wenig Interesse?
Bleibt als Fazit: Wir brauchen uns bei der Erforschung kommerziell verwertbarer neuer Arzneistoffe nicht zu verstecken, haben aber Defizite bei weniger erfolgversprechenden Kandidaten. Von Großbritannien können wir lernen, dass es sinnvoll ist, Patienten gezielt über solche Studien zu informieren. Das ist angesichts unserer zerklüfteten Kasenlandschaft keine leichte Aufgabe. Ein neues Gremium in staatlichem Auftrag wie der Gemeiname Bundesausschuss könnte solche Aufgaben übernehmen. Doch davor heißt es, Unis oder unabhängige außeruniversitäre Einrichtungen zu unterstützen.
Bildquelle: GregMontani, pixabay