Wundert euch nicht, wenn eure Diabetes-Patienten demnächst nur noch Metformin und Insulin nehmen möchten. Denn nur diese beiden Diabetes-Medikamente wurden von der Stiftung Warentest als „geeignet“ eingestuft. Bleibt die Frage: Was soll das?
Wozu brauchen wir ellenlange medizinische Leitlinien, wenn die Stiftung Warentest neuerdings die Eignung von Medikamenten zur Therapie des Typ-2-Diabetes in einer praktischen Tabelle mit Urteilen von „geeignet“ bis „wenig geeignet“ zusammenfasst? Diese schicke Tabelle kann sich jeder Arzt ins Behandlungszimmer pinnen. Oder ist die Sache vielleicht doch ein wenig komplexer, als Stiftung Warentest es den Patienten glauben machen will?
Neben grundlegenden Informationen über Typ-2-Diabetes schildert der Artikel der Stiftung Warentest in drei anschaulichen Beispielen, wie Patienten mit ihrer Erkrankung leben und welche Lebensstiländerungen ihnen geholfen haben.
Und dann geht es ans Eingemachte. Die Urteile über die Arzneimittel fällen zwei Personen: Professor Dr. Gerd Glaeske von der Abteilung Arzneimittelversorgungsforschung an der Universität Bremen und Dr. Judith Günther, Fachapothekerin für Arzneimittelinformation. Anders als beim üblichen Vorgehen der Stiftung Warentest wird in diesem Fall nichts wirklich getestet, sondern anhand vorliegender Studien geprüft, „ob die therapeutische Wirksamkeit nachgewiesen ist, der Nutzen das Risiko übersteigt und ein hoher Erprobungsgrad vorliegt.“
Sulfonylharnstoffe werden von den Experten nur für eine gute Wahl gehalten, wenn Metformin nicht eingenommen werden kann, weil die Wirkstoffe Glibenclamid & Co. Unterzuckerungen auslösen und zu einer Gewichtzunahme führen können.
Auch Glinide, Gliptine, Inkretin-Analoga und Gliflozine erhalten das Urteil „mit Einschränkung geeignet“, mit der Begründung, dass unklar sei, wie gut Diabetes-Folgeschäden vermieden werden bzw. wegen fehlender Langzeitergebnisse. Nur Leser, die sich bis zum Ende der Tabelle durchwühlen, erfahren in einer Fußnote, dass Kombinationen von Liraglutid oder Empagliflozin mit anderen Diabetesmitteln bei vorliegenden Herz-Kreislauf-Erkrankungen als „geeignet“ eingestuft werden, wenn ansonsten keine ausreichende Senkung des Blutzuckers erreicht wird.
Glitazone und Acarbose wurden vor allem aufgrund ihrer Nebenwirkung als „wenig geeignet“ eingestuft.
Der Expertenrat von Stiftung Warentest: „Zur Behandlung mit Medikamenten erachten die Arzneimittelexperten der Stiftung Warentest den Wirkstoff Metformin als erste Wahl. Der ebenfalls geeignete Wirkstoff Insulin kommt zum Einsatz, wenn nichts anderes hilft.“
Der Hinweis „fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker“ findet sich nicht.
Auf wenigen Seiten sowie kurz und knapp in einer Tabelle zusammengefasstProf. Dr. Stephan Martin, Chefarzt für Diabetologie, Verbund Katholischer Kliniken Düsseldorf und Direktor des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums. © S. Martin benötigt man keine halbe Stunde, um sich die Ergebnisse der Stiftung Warentest zu Gemüte zu führen. Aber was soll der Patient, der beispielsweise ein „mit Einschränkung geeignetes“ Gliptin einnimmt, damit anfangen? Mit dem Arzt diskutieren, der das ja offenbar für eine gute Wahl hält? Nach Insulin fragen? Oder die Tabletten lieber einfach nicht nehmen?
Diese Verunsicherung hat auch Professor Stephan Martin, Chefarzt für Diabetologie und Direktor des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums, bereits bei seinen Patienten wahrgenommen. In einem Artikel bemängelt er, dass „die aktuelle Evidenz zu modernen Antidiabetika nicht berücksichtigt wurde.“ Da die deutsche Leitlinie abgelaufen ist und das Update noch auf sich warten lässt, verweist er auf eine Publikation zum Management von Typ-2 Diabetes, die Ende 2018 von den amerikanischen und europäischen Diabetes-Gesellschaften veröffentlicht wurde.
Darin wird herausgestellt, dass der Patient im Mittelpunkt steht und individuelle Merkmale bei der Therapieauswahl berücksichtigt werden sollen. Nach Versagen von Lebensstiländerung und Metformin wird zunächst differenziert, ob eine Herz-Kreislauf- oder Nierenerkrankung vorliegt oder nicht. Weitere Fragen sind, ob Körpergewicht verloren oder eine Zunahme vermieden werden soll, oder ob das Minimieren von auftretenden Hypoglykämien von größerer Bedeutung ist.
Danach wird ein orales Antidiabetikum oder ein GLP-1-Rezeptoragonist (Inkretin-Mimetikum) gewählt. Wenn dies noch nicht zu ausreichendem Erfolg führt, werden Kombinationen dieser Medikamente gegeben. Erst wenn auch diese versagen, wird Insulin empfohlen, es rangiert dem internationalen wissenschaftlichen Konsens nach also weit hinter den Medikamenten, die von der Stiftung Warentest als „mit Einschränkung“ oder „wenig geeignet“ beurteilt wurden.
In Deutschland kommt bei der Behandlung von Typ-2-Diabetes überdurchschnittlich häufig Insulin zum Einsatz, pro Kopf wurden 2010/2011 in Deutschland mehr als doppelt so viele Insulineinheiten verschrieben wie beispielsweise in Frankreich. Bei vergleichbarer Prävalenz war der Anteil der Menschen mit Typ-2-Diabetes, die Insulin bekamen, bei uns mit 30 Prozent deutlich höher als in Frankreich, wo nur 17 Prozent so behandelt wurden.
Ganz neuen Daten des IQWIG zufolge hat sich daran auch in den vergangenen Jahren auch kaum etwas geändert: Von 3.368.072 gesetzlich versicherten Typ-2-Diabetikern, die medikamentös behandelt werden, erhalten 992.810 (29,5 %) Insulin.
Das könnte auf finanzielle Fehlanreize zurückzuführen sein, denn Insulin belastet das Praxisbudget im Gegensatz zu anderen Medikamenten nicht: Die Krankenkassen erhalten für jeden Typ-2-Diabetiker, der mit Insulin behandelt wird, über den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich einen Betrag von 2.423 Euro. Martin sagt: „Dazu kamen in den 90er Jahren Lenkungsinstrumente wie Strukturverträge mit hohen Kopfpauschalen für die Insulintherapie.“
Dabei ist die Evidenz für die Insulintherapie beim Typ-2-Diabetes gering. „Es gibt drei Studien zur Insulintherapie bei Typ-2-Diabetes, die UKPDS, die Origin-Studie und die Kumamoto-Studie. Sie zeigen, dass Insulin sicher ist, aber keine von ihnen hat gezeigt, dass Insulin die vaskulären Endpunkte reduziert, wie andere Medikamente das machen. Im Gegensatz zu Typ-1-Diabetikern, denen Insulin fehlt, haben die meisten Typ-2-Diabetiker zu viel Insulin, es wirkt nur nicht. Wenn man noch mehr Insulin gibt, hilft das bei vielen für eine gewisse Zeit, aber dann muss die Dosis gesteigert werden, die Patienten werden immer dicker, und man gerät in eine Spirale“, so Martin.
Man darf auf die neue Leitlinie (NVL) zum Typ-2-Diabetes gespannt sein, die im Februar 2020 die Durststrecke ohne gültige Leitlinie beenden soll, denn in den sieben Jahren seit Auflage der derzeit abgelaufenen Leitlinie gab es viele neue Erkenntnisse. Martin sagt: „In der Zwischenzeit wurde zusätzlich zur Blutzuckersenkung der Nutzen von SGLT-2-Inhibitoren [Gliflozinen] und GLP-1-Rezeptoragonisten [Inkretin-Analoga] auf kardiovaskuläre Endpunkte nachgewiesen. Die Beibehaltung der Strategie ,Insulin über alles‘ würde den Wert dieser randomisierten Studien in Frage stellen. Andererseits müssten die Vergütungssysteme der Krankenkassen verändert werden, wenn man Insulin so radikal über Bord werfen würde, wie es internationale Leitlinien tun. Das wird in Deutschland schwierig.“
Den Erfahrungen von Prof. Martin nach sollten beim Typ-2-Diabetes eine Lebensstiländerung und in den meisten Fällen eine Gewichtsabnahme den absoluten Vorrang haben, womit er nicht allein dasteht: Vor kurzem sind Ergebnisse einer fortlaufenden Langzeitstudie veröffentlicht worden, bei denen Diabetiker, die bereits vor mehreren Jahren erkrankt waren, vor zwei Jahren eine rigorose Diät und anschließende Ernährungsumstellung durchgeführt hatten.
Teilnehmer, die es geschafft hatten, einen Gewichtsverlust von zehn oder mehr Kilogramm zu erhalten, waren zu 64 Prozent in der Remission. Insgesamt lag bei 36 Prozent der Teilnehmer nach zwei Jahren kein Diabetes mehr vor, 40 Prozent konnten auf Medikamente komplett verzichten. In der Kontrollgruppe waren nur drei Prozent ihren Diabetes losgeworden, und 84 Prozent waren auf Medikamente angewiesen.
Vielleicht sollte sich die Stiftung Warentest lieber ihrem Kerngebiet widmen und Produkte testen, statt Patienten unnötigerweise zu verunsichern, indem sie geradezu fahrlässig pauschalisiert und indirekt unterstellt, Ärzte würden suboptimale Medikamente verschreiben.
Ein Artikel von Karen Zoufal.
Bildquelle: jarmoluk, Pixabay