Eine geschwächt aussehende Frau um die 50 Jahre betritt meine Notdienstpraxis. Beinahe wäre sie zuhause kollabiert. Sie habe kurz zuvor große Mengen an Nahrung zu sich genommen, seitdem sei ihr speiübel. Fingerspitzengefühl ist gefragt, es geht um das Fasten im Ramadan.
Es ist 23:00 Uhr und ich mache heute ärztlichen Bereitschaftsdienst. Das bedeutet, dass ich in einer Notdienstpraxis sitze und Patienten mit akuten, aber nicht lebensbedrohlichen Erkrankungen behandle. Quasi der „Rund um die Uhr“-Hausarzt. Es klingelt an der Tür und eine geschwächt aussehende Frau um die 50 Jahre betritt die Praxis. Sie wirkt trotz ihres dunkelhäutigen Teints sehr blass.
Ihr sei ganz schwindlig und der Kopf schmerze, erklärt sie mir. Beinahe wäre sie zuhause auch kollabiert. Außerdem könne sie sich kaum auf den Beinen halten. Sie habe kurz zuvor große Mengen an Nahrung zu sich genommen und seitdem sei ihr auch sehr übel.
Zuerst vermute ich angesichts der Schilderung von Schwindel und Kopfschmerzen eine hypertensive Entgleisung. Also ein Ansteigen des Blutdrucks auf so hohe Werte, dass es neurologische Probleme geben kann. Doch das Gegenteil ist der Fall. Der Blutdruck liegt bei schlappen 85/60 mmHg und damit weit unter den Normwerten. Kein Wunder, dass es der Dame nicht gut geht. Der Blutzuckerspiegel liegt im hohen Normbereich, angesichts der Nahrungsaufnahme eine Stunde zuvor aber noch im akzeptablen Bereich.
Die Patientin sagt: „Können Sie mir nicht etwas geben, damit der Blutdruck besser wird?“ Sie sei im Ramadan und dieses Jahr falle das Fasten ihr sehr schwer. Noch bis zum 04. Juni läuft der muslimische Fastenmonat. Er gehört zu den im Koran verankerten religiösen Pflichten des Islam und beinhaltet den Verzicht auf Essen und Trinken sowie den Verzicht auf bestimmte Tätigkeiten (Rauchen, Geschlechtsverkehr) von Sonnenauf- bis untergang. Das Fasten wird als Pflicht für alle Gläubigen gesehen, die volljährig und im vollständigen Besitz ihrer körperlichen und geistigen Kräfte sind. Jugendliche können freiwillig am Ramadan teilnehmen. Kranke Personen müssen nicht teilnehmen und wer in der Fastenzeit erkrankt, kann die fehlenden Tage nachholen.
Die Fastenzeit ist für gläubige Muslime ungemein wichtig. Deswegen versuche ich, mit viel Fingerspitzengefühl nachzuhaken. Ob sie denn in den Abendstunden genug gegessen und getrunken habe, wie lange sie noch fasten würde und ob sie Vorerkrankungen habe.
Eigentlich ist die Dame kerngesund, wie sie berichtet. Sie habe sonst nie Probleme mit dem Fasten gehabt. Dieses Jahr habe sie aber mit Hitzewallungen zu kämpfen und so schwer fiel ihr das Fasten noch nie.
Die Tochter meiner Patientin steht im Hintergrund und guckt mich flehentlich an. Ich frage meine Patientin, ob sie sich vorstellen könne, einige Tage das Fasten zu unterbrechen, bis sie wieder zu Kräften gekommen sei. Sie schaut sehr unglücklich und schüttelt den Kopf. „Nur, wenn es gar nicht anders geht“, bittet sie mich. Wir reden darüber, wie sie starke Schwankungen ihres Blutzuckerspiegels vermeiden könne und ich bitte sie, etwas Traubenzucker immer in der Tasche zu haben. Das ist zwar im Ramadan streng genommen auch untersagt, aber der Kompromiss scheint ihr zu helfen. Wir reden über Flüssigkeitsaufnahme und wie sie ihre Kräfte schonen kann, denn die Patientin arbeitet Vollzeit in einem körperlich anstrengenden Beruf. Ihre Tochter redet ihr gut zu, dass sie sich bitte 2 bis 3 Tage erholen möge.
Glücklicherweise musste man bei ihr keine Medikamenteneinnahme koordinieren. Gerade bei Diabetikern oder herzkranken Patienten ist es wichtig, die Medikamente auch im Fastenmonat weiter einzunehmen. Diabetiker sollten regelmäßig ihren Blutzuckerspiegel kontrollieren und immer Traubenzucker in der Tasche haben. Herzkranke Patienten können bei einigen Präparaten auf die langwirksamen Retard-Tabletten zurückgreifen. Außerdem gilt hier zu beachten, dass gerade Patienten mit Herzschwäche keine große Mengen Flüssigkeit auf einmal zu sich nehmen können.
Ich hätte diese Patientin gerne weiter betreut und wieder gesehen, das gibt die Notfallversorgung aber nicht her. Wer chronisch kranke Patienten im Ramadan betreut, sollte diese regelmäßig in die Praxis einbestellen.
Bildquelle: rawpixel.com, pexels