Wenn Patienten täglich an generalisierten Kopfschmerzen leiden, steckt möglicherweise eine idiopathische intrakranielle Hypertonie dahinter. Dieser übermäßige Hirndruck wird vor allem bei übergewichtigen Frauen diagnostiziert. Warum ist das so?
In den letzten 10 bis 15 Jahren sind die Fallzahlen der sogenannten idiopathischen intrakraniellen Hypertonie (IIH) deutlich gestiegen. Die zumeist weiblichen Patienten leiden bei dieser Erkrankung täglich oder fast täglich an Kopfschmerzen, manchmal kann das Sehen beeinträchtigt sein. Die vermehrten Fallzahlen könnten mit dem weltweiten Anstieg von Übergewicht und Fettleibigkeit zusammenhängen, vermuten Experten. Denn: Die meisten Patienten sind übergewichtig. Laut einer aktuellen Studie kommt zudem eine Androgen-Fehlregulation als Ursache in Frage. Die Ergebnisse könnten ein Ansatzpunkt zur Entwicklung besserer, individuell angepasster Behandlungsmöglichkeiten sein.
IIH kommt typischerweise bei Frauen im gebärfähigen Alter vor. Die Inzidenz beträgt 1/100.000 bei normalgewichtigen Frauen, jedoch 20/100.000 bei übergewichtigen Frauen. Die Neuerkrankungsrate lag in England im Jahr 2002 bei 2,3 von 100.000, im Jahr 2016 bereits bei 4,7 von 100.000.
Bei der Erkrankung ist der intrakranielle Druck erhöht (> 250 mm H2O). Dem liegt jedoch kein Hydrozephalus und keine erkennbare Schädigung des Gehirns, wie etwa ein raumfordernder Prozess, zugrunde. Der ältere Name Pseudotumor cerebri resultiert (medizinhistorisch) daraus, dass auch ein Tumor einen erhöhten Druck im Schädelinneren verursachen kann.
Fast alle IIH-Patienten leiden täglich oder fast täglich an generalisierten Kopfschmerzen mit schwankender Intensität, manchmal mit Übelkeit. Sie können außerdem eine vorübergehende Verdunklung des Visus, Doppelbilder und einen pulsatilen intrakraniellen Tinnitus haben. Der Sehverlust beginnt peripher und wird oft bis zu einem späten Stadium vom Patienten nicht bemerkt. Ein permanenter Visusverlust ist die schwerste Folge. Sobald das Sehvermögen verloren geht, kehrt es in der Regel nicht zurück, auch wenn der intrakranieller Druck reduziert wird.
Die Ursachen von IIH sind bisher weitgehend unbekannt und es gibt nur wenige, symptomatische Behandlungsmöglichkeiten. Bei Kindern entwickelt sich diese Störung manchmal nachdem die Einnahme von Kortikosteroiden beendet wurde oder nachdem Kinder große Mengen an Tetracyclin genommen haben. Wissenschaftler vermuten, dass der Erkrankung eine mechanische Abflussbehinderung des venösen Rückstroms aus dem Kopf oder eine Überproduktion von Gehirn- und Rückenmarksflüssigkeit (Liquor) zugrunde liegen könnte.
Ein Forscherteam um Alexandra Sinclair von der University of Birmingham in Großbritannien hat nun untersucht, welche Rolle Androgene bei der Entstehung von IIH spielen. In ihrer Studie analysierten die Forscher die Menge von Androgenen in Blut, Urin und im Liquor bei 55 Frauen mit IIH im Alter von 18 bis 45 Jahren. Ihre Werte verglichen sie mit den Werten von zwei nach Alter und Body Mass Index (BMI) vergleichbaren Gruppen: einer Gruppe Frauen mit Übergewicht sowie einer Gruppe Frauen mit Polyzystischem Ovarialsyndrom (PCOS), das mit einem erhöhten Androgen-Spiegel einhergeht.
Die Wissenschaftler stellten fest, dass Patientinnen mit IIH im Vergleich zu den beiden anderen Gruppen einen deutlich erhöhten Testosteronspiegel im Blut sowie signifikant höhere Androgenspiegel in der Gehirn- und Rückenmarksflüssigkeit hatten. Weiterhin beobachteten sie in einer Untersuchung an Rattengewebe, dass Androgene die Ausschüttung von Gehirn- und Rückenmarksflüssigkeit im Gewebe der Plexus choroidei erhöhen – einem weitverzweigten Aderngeflecht in den Hirnventrikeln, in dem die Gehirn- und Rückenmarksflüssigkeit gebildet wird.
„Wir haben damit zum ersten Mal ein für IIH charakteristisches Muster der Androgen-Fehlregulierung gefunden. Dieses könnte eine mögliche Ursache für den erhöhten Hirndruck der Patienten sein“, erläutert Sinclair. Die Ergebnisse könnten ein Ansatzpunkt zur Entwicklung besserer, individuell angepasster Behandlungsmöglichkeiten sein, so die Forscherin.
„Die Studie gibt gute Hinweise auf die Mechanismen, die einer IIH zugrunde liegen könnten“, sagt Christoph Schankin, Oberarzt und Leiter der Kopfschmerzambulanz an der Neurologischen Klinik des Inselspitals Bern. „Wenn es gelänge, das beobachtete Hormonungleichgewicht zu verändern und so die Überproduktion von Nervenwasser zu verringern, wäre dies ein großer Erfolg. Denn wir brauchen dringend weitere Medikamente zur Behandlung der IIH.“ Allerdings seien mehr Studien notwendig, um die Zusammenhänge genauer zu überprüfen und so möglicherweise neue Wirkstoffe zu entwickeln, so der Neurologe.
Bisher wird IIH rein symptomatisch behandelt. Dabei kommen Medikamente, wiederholte Lumbalpunktionen und in manchen Fällen auch Operationen zum Einsatz. Eine Studie aus Großbritannien zeigt, dass 91,6 Prozent der Patienten mit Medikamenten, 7,6 Prozent mit Lumbalpunktionen und weniger als ein Prozent operativ behandelt werden.
Ein weiterer wichtiger Ansatzpunkt, um die Symptome der IIH zu verringern, ist eine langfristige Gewichtsabnahme. So ergab eine weitere Studie der Birminghamer Forscher mit 25 Frauen mit IIH und einem BMI über 25, dass eine dreimonatige Diät mit signifikanter Gewichtsabnahme auch mit einer signifikanten Abnahme des Hirndrucks, geringeren Kopfschmerzen und einem geringeren Papillenödem – einer Schwellung an der Austrittsstelle des Sehnervs aus der Augapfelhülle, die zur Schädigung des Sehnervs führen kann – einher ging. Darüber hinaus berichteten nach der Diätphase weniger Frauen über Tinnitus, verschleiertes Sehen und Doppeltsehen. Die positiven Veränderungen blieben auch drei Monate nach Ende der Diät bestehen, wobei die Frauen auch ihr geringeres Gewicht beibehalten konnten. Eine konsequente und dauerhafte Gewichtsabnahme sei daher ein wichtiger Faktor, um die Symptome der IIH langfristig zu normalisieren, schreiben die Forscher.
Auch in einer kürzlich veröffentlichten britischen Konsensus-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie Christoph Schankin, Oberarzt an der Neurologischen Klinik des Inselspitals Bern. © Christoph Schankin, Inselspital Bern.der IIH betonen die Autoren, dass Gewichtsabnahme die einzige bisher bekannte Therapie ist, um der Grunderkrankung entgegenzuwirken und gleichzeitigein Papillenödem und Kopfschmerzen zu reduzieren. Als wichtigste Behandlungsprinzipien definieren die Autoren eine sorgfältige Suche nach den Ursachen des erhöhten Hirndrucks und deren Behandlung, den Erhalt des Sehvermögens und die Linderung von Kopfschmerzen. Zudem sollten während der Behandlung regelmäßig augenärztliche Kontrollen durchgeführt werden, um ihre Wirksamkeit hinsichtlich der Sehfähigkeit zu überprüfen.
„Bei der Diagnostik ist es sehr wichtig, keine anderen möglichen Ursachen der Symptome zu übersehen, etwa eine schwere Erkrankung des Gehirns oder der Gehirngefäße“, betont Schankin. Daher sollte immer eine Bildgebung des Kopfes mittels Kernspintomographie (MRT) oder Computertomographie (CT) durchgeführt werden, um solche Erkrankungen auszuschließen. Weiterhin sollten bei der Diagnostik eine Liquorpunktion und eine augenärztliche Untersuchung durchgeführt werden. Bei der Liquorpunktion kann zum einen der Liquordruck bestimmt werden – der bei einer IIH erhöht ist –, zum anderen kann die Zusammensetzung des Liquor untersucht werden, die bei der IIH unauffällig sein sollte. Darüber hinaus müssen andere Erkrankungen ausgeschlossen werden, die ähnliche Symptome hervorrufen können. Dazu gehören eine Über- oder Unterfunktion der Nebenschilddrüse, Morbus Cushing, Morbus Addison, ein Polyzystisches Ovarialsyndrom, ein erhöhter oder erniedrigter Vitamin-A-Spiegel sowie eine Eisenmangelanämie. Zu den Medikamenten, die einen erhöhten Hirndruck induzieren können, gehören unter anderem Tetrazykline, die Antibiotika Nitrofurantoin und Nalidixinsäure, das Brustkrebsmedikament Tamoxifen, das Immunsuppressivum Ciclosporin sowie Cortison (bei Therapiebeginnn oder beim Absetzen).
Lässt sich keine spezifische Ursache für den erhöhten Hirndruck finden, liegt also eine IIH vor, wird in der gerade aktualisierten Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) bei der Behandlung ein stufenweises Vorgehen empfohlen. Leichtere Fälle von IIH ohne neurologische Ausfälle können demnach mit Medikamenten behandelt werden, die den erhöhten Druck im Nervenwasser reduzieren. Zudem wird eine dauerhafte Gewichtsabnahme empfohlen. „Als Standardmedikament wird hier Acetazolamid (Diamox) eingesetzt“, erläutert Christoph Schankin. „Falls dieses nicht hilft, können als alternative Medikamente Topiramat und Furosemid verwendet werden.“ Das Glaukom-Medikament Acetazolamid vermindert die Liquorproduktion und kann so den erhöhten Hirndruck senken. Eine Kombination aus Gewichtsabnahme und Acetazolamid empfholen, diehat sich dabei als effektiver erwiesen als Gewichtsabnahme allein.
Das Anti-Epileptikum Topiramat, das auch zur Behandlung von Migräne eingesetzt wird, wirkt ähnlich, jedoch schwächer als Acetazolamid und führt zusätzlich zu einer Gewichtsabnahme. Topiramat kann zu deutlichen Nebenwirkungen wie einer Beeinträchtigung der kognitiven Fähigkeiten und depressiven Verstimmungen führen. Beide Medikamente können mit dem Diuretikum Furosemid kombiniert werden, das die Ausscheidung von Körperwasser erhöht. Zur symptomatischen Therapie der Schmerzen werden zudem Schmerzmittel wie Paracetamol oder nicht-steroidale Antirheumatika (NSAR) eingesetzt. Ibuprofen sollte dagegen bei einer IIH nicht verordnet werden, weil es möglicherweise den Hirndruck erhöht.
Bei mittelgradigen neurologischen Ausfällen, etwa einer nicht schnell fortschreitenden Verminderung der Sehschärfe, wird eine Liquorpunktion empfohlen. Diese kann in kurz- oder längerfristigen Abständen wiederholt werden, bis sich die Beschwerden deutlich gebessert haben und sich der Hirndruck normalisiert hat. Allerdings ist die Besserung der Symptome bei einer Liquorpunktion meist nur vorübergehend und wiederholte Punktionen werden von einigen Patienten nicht gut toleriert. In der britischen Konsensus-Leitlinie werden wiederholte Liquorpunktionen daher nicht mehr empfohlen.
Eine operative Maßnahme sollte in Betracht gezogen werden, wenn sich die Symptome trotz Medikamenten oder wiederholter Liquorpunktionen nicht bessern oder sogar weiter verschlechtern. Auch bei schweren, rasch fortschreitenden neurologischen Ausfällen muss eine Operation in Erwägung gezogen werden, um den Hirndruck konsequent zu senken. „Eine Möglichkeit ist ein Shunt, durch den das Zuviel an Nervenwasser abgeleitet wird“, erläutert Schankin. „Dabei wird eine dauerhafte Liquorableitung aus den Ventrikeln des Gehirns oder aus dem Spinalkanal des Rückenmarks in den Bauchraum oder in die Hohlvenen in der Nähe des Herzens gelegt.“ Dies kann in Einzelfällen zu Komplikationen führen, etwa zu einer zu starken oder zu geringen Ableitung von Nervenwasser oder zu Entzündungen. „Wenn die Operation gut gemacht ist, treten in der Regel jedoch wenig Komplikationen auf“, sagt der Neurologe.
Weiterhin kommt als Operation bei drohendem Sehverlust eine so genannte Optikusscheidenfensterung in Betracht, bei der der Sehnerv durch eine mikrochirurgische Intervention entlastet wird. Eine neue und zum Teil noch kontroverse Methode ist eine Aufdehnung von Engstellen der Hirnvenen (Stenting). „Dabei wird eine verengte Hirnvene, über die das Nervenwasser normalerweise abfließt, mit einem Stent erweitert und dauerhaft offen gehalten“, erklärt Schankin. „Dies führt auch zu einer unmittelbaren Druckentlastung des Sehnervs.“ Ein Risiko bei dieser Methode ist, dass bei der Dehnung ein Blutgefäß aufplatzt. „Solche Operation sollten daher immer von einem Spezialisten mit Erfahrung auf diesem Gebiet durchgeführt werden“, betont Schankin. Als weitere operative Methode kann bei stark übergewichtigen Patienten eine Adipositas-Chirurgie in Erwägung gezogen werden, um so das Übergewicht langfristig zu reduzieren.
Neben den körperlichen Symptomen und den Risiken eines erhöhten Hirndrucks ist eine IIH häufig auch mit starken psychischen Belastungen und einer verminderten Lebensqualität verbunden. Viele Betroffenen seien nicht oder nur noch eingeschränkt arbeitsfähig, berichtet die Deutsche Gesellschaft für intrakranielle Hypertension e. V., auf ihrer Webseite. Als Folge der belastenden Symptome treten häufig Angststörungen und Depressionen auf. Behandelnde Ärzte sollten daher auch auf Symptome von Angst oder Depression achten, ihre Patienten darauf ansprechen und ihnen entsprechende Unterstützung zur Verfügung stellen.
Insgesamt fehlen bisher groß angelegte, qualitativ hochwertige Studien zu verschiedenen Fragestellungen, die mit der idiopathischen intrakraniellen Hypertonie zusammenhängen, schreiben die Forscher um Alexandra Sinclair. Solche Studien sollten in naher Zukunft durchgeführt werden, um Fragen zu Ursachen und zur Behandlung der Erkrankung zu klären und die Behandlungsmöglichkeiten für die Patienten zu verbessern, fordern die Wissenschaftler.
Artikel von Christine Amrhein
Bildquelle: Jose Antonio Gallego Vázquez, pexels