Gluten ist tot. Laktose röchelt schon. Das Milch-Bashing erreicht jetzt eine neue Dimension: Das weiße Getränk soll Krebs auslösen. Was ist dran, welche wissenschaftlichen Studien gibt es? Und was sollten Ärzte ihren Patienten raten?
„Eigentlich müsste ein Warnhinweis auf der Milchverpackung stehen“, erklärt Prof. Dr. Bodo Melnik, Hochschullehrer und Dermatologe aus Gütersloh. Gefahren sieht er vor allem durch sogenannte MicroRNAs im vermeintlich gesunden Getränk. Bei Erwachsenen würden diese kleinen Nukleinsäuren die Entstehung von Tumoren begünstigen. Nur ärgerlich, dass Schweizer Forscher alle Theoriegebäude zum Einsturz brachten. Die kleinen RNA-Moleküle werden gar nicht resorbiert, sondern einfach nur abgebaut. Ganz so unrecht hatte Melnik aber nicht. Die Milch ist möglicherweise gefährlich – die Gefahr lauert nur woanders.
Ein neuer Erreger in Milch und Rindfleisch
Ausgangspunkt waren wie so oft epidemiologische Studien. Bereits vor Jahren vermutete Prof. Dr. Harald zur Hausen vom Deutschen Krebsforschungszentrum Heidelberg, Assoziationen zwischen Darmkrebs und Brustkrebs mit Rindfleisch bzw. Milch. Die Krebsarten sind in Ländern mit hohem Konsum entsprechender Lebensmittel weit verbreitet, aber nicht in vielen Regionen Indiens. Japan und Korea passen sich nach dem zweiten Weltkrieg dem westlichen Speiseplan an. Parallel zum steigenden Konsum von Rindfleisch ging die Inzidenz kolorektaler Karzinome nach oben.
Auf Basis der Kohortenstudien postulierten zur Hausen und Kollegen ein damals noch unbekanntes Pathogen, das zu chronischen Entzündungen führt und Jahrzehnte später maligne Erkrankungen auslöst. In Proben fanden Wissenschaftler schließlich ringförmige DNA-Moleküle außerhalb des eigentlichen Erbguts, genannt BMMFs – „Bovine Meat and Milk Factors“. Sie tragen alle das Gen Rep zur Vervielfältigung (Replikation). Ansonsten zeigen BMMFs Ähnlichkeiten mit Plasmiden aus dem Bakterium Acinetobacter baumannii. Der Keim infiziert nicht nur Menschen, sondern auch Rinder.
In von BMMFs infizierten Gewebebereichen konnten erhöhte Spiegel reaktiver Sauerstoffverbindungen nachgewiesen werden, ein typisches Merkmal für Entzündungen. Solche Sauerstoffradikale begünstigen die Entstehung von Erbgutveränderungen. Chronische Entzündungsreaktionen werden seit langem schon als mögliche Ursache von Darmkrebs diskutiert, unter anderem als Basis für die Entstehung von alkoholbedingtem Magen- und Darmkrebs.
BMMFs sind indirekt karzinogen. Sie greifen nicht in den Zellzyklus ein, sondern schaffen quasi Rahmenbedingungen für die Karziongenese. Wie viele Krebsfälle auf das Konto von BMMFs gehen, ist unklar: Nicht jede Infektion führt zu malignen Erkrankungen.
Milch aufbereiten, Impfungen entwickeln
Angesichts der Liste an gesundheitlichen Risiken, die mit Milch und Rindfleisch in Zusammenhang gebracht wurden, stellt sich die Frage: Sollen wir auf Kuhmilch und Rindfleisch besser ganz verzichten? Zur Hausen macht wenig Hoffnung, dass eine Askese dieser Art das Erkrankungsrisiko senken kann. Seiner Theorie zufolge sind wir bereits alle infiziert, wenn wir in jungen Jahren Milch oder Rindfleisch gegessen haben: Also so gut wie jeder. Für zukünftige Generationen schlägt der Wissenschaftler einen Lösungsansatz vor: Aus Forschungsperspektive stellt er Impfungen für Babys bzw. Nutztiere in Aussicht oder kann sich das Herausfiltern der BMMFs aus Milch vorstellen.
Darüber hinaus könnte langes Stillen über einen Zeitraum von sechs Monaten vor BMMFs schützen. Denn in der Muttermilch sind die protektiven Zuckerverbindungen Disialyl-lacto-N-Tetraose, 2‘-Fukosyllaktose und 3‘-Fukosyllaktose enthalten. Ein Stillen über einen so langen Zeitraum entspricht allerdings nicht der S-3-Leitlinie Allergieprävention. „Stillen hat viele Vorteile für Mutter und Kind. Die aktuelle Datenlage unterstützt die Empfehlung, dass für den Zeitraum der ersten 4 Monate voll gestillt werden soll“, heißt es in der Leitlinie.
Kardiovaskuläre Erkrankungen
Neben der Warnung vor BMMFs existieren zahlreiche Studien, die in Kuhmilch ein Nahrungsmittel mit einem extremen gesundheitlichen Risiko sehen. Eine große 20-jährige prospektive Studie an schwedischen Erwachsenen ergab, dass ein höherer Milchkonsum zahlreiche Faktoren günstig beeinflusst, aber mit einer Verdoppelung des Mortalitätsrisikos durch kardiovaskuläre Erkrankungen in der Kohorte der Frauen verbunden war.
Banach und seine Mitarbeiter untersuchten Daten aus einer National Health and Nutrition Examination Surveys (NHANES) Studie im Zeitraum von 1999-2010 mit 24.474 Erwachsenen. Das Durchschnittsalter betrug 47,6 Jahren. 51,4 Prozent waren Frauen. Während des Follow-up-Zeitraums von rund 77 Monaten wurden 3.520 Gesamttodesfälle registriert, darunter 827 Krebstodesfälle, 709 Herztodesfälle und 228 Todesfälle durch zerebrovaskuläre Erkrankungen.
Der Konsum aller Milchprodukte war mit einem um 2 Prozent niedrigerem Gesamtmortalitätsrisiko und der Konsum von Käse mit einem um 8 Prozent niedrigeren Gesamtmortalitätsrisiko verbunden. Aber der Milchkonsum war auch mit einer 4 Prozent höheren KHK-Mortalität verbunden. Die Kausalität kann jedoch schwer zu bestimmen sein, da die meisten Menschen, die Milch konsumieren, auch andere Milchprodukte konsumieren.
Kürzlich veröffentlichte Reviews und Metaanalysen geben Entwarnung. Demnach führen Milch oder Milchprodukte zu keinem höheren Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen. Auch die Gesamtmortalität ändert sich nicht signifikant.
Macht Milch den Knochen mürbe oder fest?
Was ist aber mit der Annahme, Milch sei gut für die Knochen? Osteoporose und damit verbundene Frakturen entstehen ja unter anderem durch Calciummangel. Milch enthält Calcium und beugt deshalb Osteoporose vor. Diese „Weisheit“ wurde lange Zeit verbreitet und wird zunehmend hinterfragt.
Michaëlsson et al. analysierten Daten aus zwei großen Studien. In beiden Kohorten wurde zwischen Milch und fermentierten Milchprodukten unterschieden, was von Bedeutung ist, da Joghurt und Käse nur einen geringen Anteil an Laktose und damit D-Galaktose enthalten. Frauen, die drei oder mehr Gläser Milch am Tag tranken, hatten ein um 93 Prozent erhöhtes Sterberisiko. Das Frakturrisiko war bei den Frauen ebenfalls erhöht. Für jedes tägliche Glas Milch nahm es um 2 Prozent zu, bei den Hüftfrakturen betrug der Anstieg sogar 9 Prozent.
Fermentierte Milchprodukte mit einem geringen Laktosegehalt senkten hingegen die Sterblichkeit. „Die Ergebnisse stellen zumindest die derzeitige Empfehlung eines hohen Milchkonsums zur Vorbeugung von osteoporotischen Frakturen infrage“, so die Forscher. Sie räumen jedoch auch ein, dass eine Warnung vor Milch nicht gerechtfertigt ist und ein schädlicher Einfluss auf die Gesundheit nicht bewiesen ist.
Bei Kindern führen Milch oder Milchprodukte tatsächlich zu einer besseren Mineralisierung von Knochen, ohne Effekte auf das Wachstum zu zeigen.
Umdenken und nachforschen
Bei den hier zitierten Kohortenstudien zeigt sich das altbekannte Problem. Zwei Fakten, sprich der Milchkonsum und ein bestimmtes Krankheitsrisiko, stehen miteinander in Verbindung. Ob es kausale Zusammenhänge gibt, bleibt offen. Auch so mancher Fragebogen zum Lebensstil spiegelt nicht die Realität wider. Bis wir mehr wissen, können wir den weißen Risikotrunk noch ohne Reue schlürfen.
Artikel von Matthias Bastigkeit und Michael van den Heuvel
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