Während meiner Schicht muss ich eine ellenlange To-Do-Liste abarbeiten. Punkt eins: Picco-Katheter legen. Klar, kenn ich. Aber gemacht hab ich das noch nie.
Es ist mitten in der Nacht. Wir haben vor zwei Stunden eine Patientin im septischen Schock nach Lungenentzündung und kurz darauf einen Patienten mit unklarem epileptischen Anfall bekommen. Wir hatten alle Hände voll zu tun, doch nun endlich scheint alles einigermaßen aufgegleist. Die Kollegin vom Tagdienst hat Überstunden gemacht, um mir zu helfen und ist nun auch endlich nach Hause. Ich habe ein riesige To-Do-Liste, welche ich abarbeiten muss. Punkt eins: „Picco-Katheter legen“. Na dann.
Ein Picco-Katheter ist ein Schlauch mit einer Sonde dran, den man in der Leiste in die Arterie einlegt. Zusätzlich braucht man einen Schlauch in der oberen Hohlvene des Herzens. Nun kann man eine definierte Menge kaltes Wasser in den Schlauch in der Vene spritzen, damit wird dort das Blut kälter. Das kalte Blut fließt nun durch das rechte Herz, die Lunge, das linke Herz und schliesslich in die Aorta und dann die Leistenarterie. Die Sonde in der Arterie misst den Temperaturunterschied des Bluts. Die daran angehängte Maschine kann nun zum Beispiel berechnen, wieviel Blut das Herz pro Schlag oder pro Minute auswirft, und noch einige andere nützliche Parameter.
Die Theorie kenn ich, aber gemacht hab ich das noch nie. Klar, ich hab schon diverse Schläuche in diverse Gefäße gelegt, aber noch nie genau diesen genau in die Leiste. Glücklicherweise habe ich mit Andrea eine der erfahrensten, freundlichsten Pflegefachpersonen des Teams an meiner Seite. Sie hat schon das ganze Material vorbereitet.
„Ich hol dann mal den Ultraschall“, verkünde ich.
Andrea prustet los. „Wozu brauchst du denn den?“
„Damit ich sehe, wo ich stechen muss?“
„Ach, ihr Anästhesisten mit eurem Ultraschall… Taste doch mal. Spürst du den Puls? Da must du hin. Dazu brauchst du keinen Ultraschall.“
Ich vertraue Andrea. Sie hat mir schon so oft gute Tipps gegeben, sie weiß einfach extrem viel. Wenn sie sagt, ich könne das, dann kann ich das auch.
Ich taste den Puls. Der ist nicht zu verfehlen. Na dann, los gehts.
„Ach ja, und ich hab das ganze Bett abgedeckt. Macht also nix, wenn ein Bisschen was daneben geht, okay? Ignorier das einfach und kümmer dich um den Katheter“, zwinkert mir Andrea noch zu.
Ich desinfiziere die Leiste, ich decke alles steril ab und bereite das Material vor. Ich inspiziere besonders den Katheter gut. Sieht aus, wie alle anderen Schläuche auch. Scheint machbar zu sein – natürlich, Andrea hat’s ja gesagt. Und eigentlich hat sie recht – wenn ich Katheter in die Arterie am Arm lege, brauche ich in der Regel auch keinen Ultraschall, sondern taste und steche zu.
Ich spüre den Puls noch immer gut. Um es mir etwas leichter zu machen, spritzt Andrea noch ein Medikament, welches den Blutdruck etwas erhöht. Von dem Medikament braucht die Patientin ohnehin schon extrem viel, ohne war ihr Blutdruck bei 70/30 mmHg, jetzt ist sie grade auf einem guten Niveau. Mit der kleinen Extragabe steigt der Blutdruck noch ein bisschen, so kann ich den Puls besser tasten. Tief unter meinem linken Zeigefinger pulsiert die Arterie.
Ich nehme die Kanüle und steche durch die Haut in die Richtung, aus welcher das pulsierende Gefühl kommt. „Da hast du’s!“, ruft Andrea aus. Aus der Kanüle tropft Blut, schnell und ebenfalls pulsierend. Tropf, tropf, tropf. Jetzt sollte es schnell gehen.
Ich führe einen dünnen, flexiblen Draht durch die Kanüle in die Arterie ein. Dabei rutsche ich mit der Spitze der Kanüle wieder aus der Arterie und muss den richtigen Ort wieder finden. Ein paar Millimeter vor, und da tropft es wieder. Diesmal geht der Draht problemlos rein, und ich kann die Kanüle rausziehen.
Als nächstes schiebe ich den weichen Katheter über den Draht in die Arterie. Das gestaltet sich schwierig.
„Komm schon, mit Schmackes!“, spornt mich Andrea an. „Drücken drücken drücken… Siehst du? Klappt doch prima.“
Der Schlauch ist drin und Andrea reicht mir den Verbindungsschlauch für die Messung, nun brauche ich ihn nur noch anzunähen. Das ist der einfachste Part. Schließlich kann ich alle spitzen Kanülen entsorgen und meine schweißnassklebrigen sterilen Handschuhe ausziehen. Puh.
„Na also. Hast du prima gemacht!“ Sie klopft mir auf die Schulter, ich fühle mich, als hätte sie ein Sternchen im mein Heft geklebt. „Das hat super geklappt, und du hast noch nichtmal eine Sauerei gemacht! Top! Jetzt geh und trink was und leg die Füße ein paar Minuten hoch, das waren jetzt ein paar echt stressige Stunden. Danach schauen wir uns mal die ganzen Parameter an, ja?“
Tatsächlich, das ist meine erste Pause seit über vier Stunden. Ich trinke etwas Wasser, Andrea geht eine rauchen, dann treffen wir uns am Patientenbett wieder, analysieren die Messergebnisse zusammen und einigen uns auf das Vorgehen für die nächsten zwei Stunden. Ich hab einen Algorithmus dafür und muss nur die richtigen Pfade finden. Andrea kennt den Algorithmus in- und auswendig, wartet aber geduldig, bis ich selber zum richtigen Ergebnis komme.
Irgendwann darf ich ein Nickerchen machen gehen, so ist das nachts geregelt, weil man keine richtigen Pause während der 13h Schicht hat. Die Pflegenden können mich jederzeit anrufen, doch heute kann ich ungestört zwei Stunden schlummern.
Als ich zurück auf die Station komme, haben sich sämtliche Werte der Patientin verbessert. Was vor ein paar Stunden noch kritisch bis lebensbedrohlich aussah, ist nun „nur“ noch ernst, aber machbar. Frau P. wird es schaffen.
Ohne Pflegefachpersonen wären wir nix.
Bildquelle: eike, flickr