Wissenschaftler entlocken unserem Erbgut mehr und mehr Geheimnisse. Sie finden Faktoren zur Prognose der Lebenserwartung, aber auch neue Ansätze zur Tumortherapie. Nicht jede theoretisch mögliche Behandlung bewährt sich auch in der Praxis.
Wie lange werden wir leben? Diese Frage beschäftigt Menschen seit Jahrtausenden. Stuart K. Kim von der Stanford University wollte wissen, ob moderne Verfahren des Rätsels Lösung bringen. Zusammen mit Kollegen entdeckte er mehrere Sequenzen, die unser Leben verlängern. Varianten in SH2B3, das für ein Signalprotein kodiert, schützten unter anderem vor Lungen- und Pankreaskrebs, aber auch vor koronarer Herzkrankheit oder vor rheumatoider Arthritis. ABO steht als Gen nicht nur für die Blutgruppe Null, sondern schützt vor Krebs und koronarer Herzkrankheit – viele Hundertjährige haben diese Blutgruppe. Der Zellzyklus ist bei CDKN2B/ANRIL im Mittelpunkt. Fehler stehen auch hier mit malignen Erkrankungen, Aneurysmen und amyotropher Lateralsklerose in Verbindung. Bleiben noch APOE und TOMM40 mit protektiven Eigenschaften gegen metabolische, kardiovaskuläre, aber auch neurodegenerative Erkrankungen.
Varianten im Erbgut geben Ärzten auch die Möglichkeit, Chancen einer Therapie vorherzusagen. Adam Ivey von der UK National Cancer Research Institute AML Working Group machte sich auf die Suche nach prognostischen Faktoren bei der akuten myeloischen Leukämie (AML). Seine Fragestellung: Welche Patienten profitieren von allogenen Stammzelltransplantationen trotz der therapieassoziierten Mortalität, weil bei ihnen nach Chemotherapien häufig Rezidive auftreten? Ivey suchte bei 346 Patienten nach Besonderheiten im Erbgut. Seine Proben waren Vorläuferzellen der weißen Blutzellen, sogenannte „Leukämiezellen“. In allen Fällen traten vor der Behandlung Mutationen im Gen NPM1 auf. Bei 15 Prozent fanden Wissenschaftler entsprechende Besonderheiten zwei Chemotherapie-Zyklen später immer noch. Durch Tests gelang es, zwei Gruppen zu identifizieren: Lediglich 30 Prozent aller Patienten in „molekularer Remission“ haben nach drei Jahren ein Rezidiv; 75 Prozent sind noch am Leben. Finden Molekularbiologen nach der Behandlung immer noch residuelle Zellen, sprechen sie von einer „minimalen Resterkrankung“ (minimal residual disease, MRD). Nach drei Jahren hatten 82 Prozent aller Personen ein Rezidiv erlitten, und nur 25 Prozent waren noch am Leben. Hier wären Stammzelltransplantationen angebracht, schreibt Michael J. Burke vom Medical College of Wisconsin. Er rechnet in den nächsten Jahren mit deutlich mehr Eingriffen dieser Art.
Besonderheiten im Erbgut helfen nicht nur bei der Risikostratifizierung, sondern auch bei der Therapie selbst. Marian H. Harris vom Boston Children’s Hospital, Massachusetts, hat jetzt Ergebnisse der Individualized Cancer Therapy (iCat) Study veröffentlicht. Erstmals geht es um Strategien zur Therapie pädiatrischer Tumoren. Bei 89 von 100 kleinen Patienten gelang es, genetische Profile des jeweiligen Tumors anzulegen. In 31 Fällen fand Harris Besonderheiten, die sich als Targets bereits zugelassener Medikamente eigneten. Besonders häufig traten Mutationen in Genen auf, die mit Signalwegen (zehn Fälle), dem Zellzyklus (elf Fälle) oder Transkriptionsfaktoren (sechs Fälle) in Verbindung stehen. Bei einem embryonalen Rhabdomyosarkom hatten Ärzte mit Buparlisib, einem Inhibitor der Phosphatidylinositol-3-Kinase, Erfolg. Crizotinib punktete als Hemmstoff der anaplastischen Lymphomkinase bei einem Neuroblastom. Einen anderen Weg schlugen Molekularbiologen unter Leitung von D. Williams Parsons vom Baylor College of Medicine, Houston, ein. Sie sequenzierten DNA aus gesunden Zellen, um Keimzellmutationen von somatischen Mutationen zu unterscheiden. Alle 150 Studienteilnehmer litten an soliden Tumoren; bei 121 kleinen Patienten gelang es auch, Tumor-DNA zu sequenzieren. 47 Kinder hatten Mutationen in Genen, die durch bereits zugelassene oder experimentelle Wirkstoffe behandelt werden könnten. Trotz dieser bahnbrechenden Erkenntnis mahnen Onkologen zur Vorsicht.
Setzen Ärzte zielgerichtete Wirkstoffe „off label“ ein, heißt das noch lange nicht, dass ihre Patienten wirklich profitieren. Christophe Le Tourneau vom französischen Institut Curie veröffentlichte niederschmetternde Daten. Er nahm 741 Patienten mit unterschiedlichen Krebserkrankungen in eine Phase-2-Studie auf. Von ihnen hatten 293 mindestens eine molekulare Besonderheit im Erbgut, die zu gängigen Therapieregimes passte. Le Tourneau teilte 96 Personen randomisiert in die Kontrollgruppe mit Standrad-Zytostatika ein. Weitere 99 Menschen erhielten zielgerichtete Therapien mit Abirateron, Dasatinib, Erlotinib, Everolimus, Imatinib, Lapatinib plus Trastuzumab, Letrozol, Sorafenib, Tamoxifen oder Vemurafenib. In beiden Gruppen lag das progressionsfreie Überleben bei 11,3 Monaten. Le Tourneaus Fazit: Molekularbiologische Untersuchungen sind nur die halbe Miete. Ohne klinische Studien lässt sich der Mehrwert molekularbiologischer Achillesfersen nicht genau bestimmen.