Die Zahl der verordneten Antidepressiva hat sich in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt. Unklarheit herrscht allerdings nach wie vor beim Beenden der Therapie: Absetzsyndrome können für Patienten gefährlich werden.
Jahr für Jahr werden mehr Antidepressiva verschrieben. Zwischen 2008 und 2018 sind die Verordnungen bei der Kaufmännischen Krankenkasse um 26 Prozent gestiegen. Die Techniker Krankenkasse verzeichnete zwischen 2007 und 2017 eine Zunahme von 50 Prozent. Wie lassen sich die steigenden Zahlen erklären?
Auf die Frage, ob Depressionen häufiger geworden sind, antwortete der Psychiater Prof. Ulrich Hegerl im Deutschlandfunk: „Wir hatten vor 30 oder vor 20 Jahren ebenso viele Depressionen wie jetzt. Es wird nur jetzt die Diagnose häufiger gestellt, weil mehr Menschen sich Hilfe holen und die Ärzte die Erkrankung besser erkennen.“
Doch steigende Verschreibungszahlen könnten auch mit dem Absetzen der Antidepressiva zusammenhängen. Eine Studie zeigt: Viele Patienten leiden beim Ausschleichen unter Beschwerden − manchmal so schwer, dass die Dosis wieder hochgesetzt wird.
Durch die Einnahme von SSRI beziehungsweise SSNRI wird die Serotonin-Konzentration im Liquor erhöht. Bei einer längerfristigen Therapie entsteht aufgrund des Botenstoff-Überschusses eine Toleranz. Wird das Mittel wieder abgesetzt, fehlt es an Serotonin und das Gehirn versucht das chemische Gleichgewicht wiederherzustellen. Dabei kann das sogenannte SSRI-Absetzsyndrom auftreten. Unruhe, Schlaflosigkeit, Kreislaufbeschwerden, Kopfschmerzen, Stimmungsschwankungen, grippeähnliche Symptome, Empfindungsstörungen, Verdauungsprobleme und starkes Schwitzen gehören zu möglichen Symptomen.
In den S3-Leitlinien zur Unipolaren Depression steht, dass das Absetzsyndrom vor allem beim plötzlichen Absetzen entsteht. Um Beschwerden zu vermeiden, empfehlen die Leitlinien, das Medikament über vier Wochen auszuschleichen. Doch es gibt Evidenz, dass die Symptome nicht nur bei plötzlichem Absetzen auftreten können.
Im September 2018 veröffentlichten James Davies von der University of Roehampton in London und John Read von der University of East London eine Übersichtsarbeit zu den Absetzerscheinungen bei Antidepressiva. Die Forscher analysierten 14 Studien im Hinblick auf Vorfälle, Schwere und Dauer der Absetzsymptomatik.
56 Prozent der Probanden berichteten von Problemen beim Absetzen, obwohl die Medikamente ausgeschlichen wurden. Ein Großteil beschrieb die Symptome als schwer, beinahe die Hälfte als sehr schwer. Die Absetzbeschwerden dauerten abhängig vom Patienten mehrere Wochen bis Monate. In seltenen Fällen blieben die Symptome dauerhaft bestehen.
In den Studien wurde das Absetzen von mehreren SSRI und SSNRI, unter anderem Citalopram, Fluoxetin oder Venlafaxin, beobachtet. Unterschiede wurden nicht genauer untersucht. Möglicherweise variieren Absetzbeschwerden von Stoff zu Stoff aufgrund verschiedener Halbwertszeiten, räumen die Forscher ein.
Trotz hoher Verschreibungszahlen ist die Forschungslage dürftig. Insgesamt fanden Davies und Read 24 relevante Studien. Sechs davon wurden von Pharmaunternehmen finanziert, fünf weitere involvierten Wissenschaftler mit Interessenkonflikten und wurden daher nicht eingeschlossen.
Davies, Read und ihre Kollegen kritisieren außerdem, dass in den US-amerikanischen und englischen Leitlinien nicht auf die Absetzproblematik aufmerksam gemacht wird. Die Symptome werden dort als leicht und schnell vorübergehend beschrieben. Daher halten die Forscher das Anpassen der Leitlinien für unbedingt nötig.
„Viele Patienten haben Probleme beim Absetzen von Antidepressiva. Lange wurde das als besondere Empfindsamkeit abgetan. Darüber sollte dringend gesprochen werden“, sagt auch Prof. Uwe Gonther, Chefarzt des AMEOS Klinikums Dr. Heines in Bremen. Um Absetzsymptome so weit wie möglich zu vermeiden, empfiehlt Gonther ein sehr langsames Ausschleichen der Medikamente.
Viele Ärzte sind sich nicht darüber im Klaren, wie schwer das Absetzen sein kann. Davies und Read erläutern, dass die Symptome dadurch oft falsch eingeordnet werden, etwa als Rückfall oder fehlendes Ansprechen auf die Therapie. Denn das Absetzsyndrom ähnelt den Symptomen einer Depression. Als Folge erhöhe der Arzt die Dosis wieder oder wechsele das Medikamente. So trage das Verkennen des Absetzsyndroms dazu bei, dass viele Patienten langfristig Antidepressiva einnehmen.
Die Langzeitnutzung von Antidepressiva ist häufig, wie eine im Januar dieses Jahres veröffentlichte Forschungsarbeit, ebenfalls unter Leitung von Davies und Read, zeigt. Darin gaben 75 Prozent der 752 befragten Antidepressiva-Nutzer an, ihre Tabletten seit über einem Jahr zu nehmen. 20 Prozent nahmen seit zehn Jahren und länger Medikamente gegen Depressionen. Viele hatten bereits einen oder mehrere Absetzversuche hinter sich. Ein Viertel der Befragten plante, dauerhaft Antidepressiva zu nutzen.
Doch eine Langzeitanwendung sollte vermieden werden. Denn sie führt nicht nur zu hohen Kosten, sondern auch zu Nachteilen für Patienten. Laut einer Studie verstärkten sich bei Langzeitnutzung die Nebenwirkungen der Medikamente. Weiterhin hat sich gezeigt, dass eine kürzere Antidepressiva-Einnahmezeit mit erfolgreicherem Absetzen verbunden ist.
Die Ergebnisse der Arbeit von Davies und Read werfen Fragen auf. Sollte man beim Ausmaß der Beschwerden auch bei Antidepressiva vom Entzug statt vom Absetzsyndrom sprechen? Und wie sieht es mit dem Abhängigkeitspotential der Mittel aus, wenn bei vielen Patienten das Absetzen nicht gelingt?
Der eingangs zitierte Ulrich Hegerl ist Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und ein gefragter Experte in Sachen Depression. In einem Beitrag des Deutschlandfunks vom Juni 2018 sagte Hegerl, 80 Prozent der Bevölkerung würden glauben, dass die Medikamente abhängig machten. Dies sein ein Irrtum. Schlaf- und Beruhigungsmittel könnten abhängig machen, Antidepressiva dagegen nicht.
Strenggenommen stimmt das. Denn für das Vorliegen einer Sucht muss per Definition das Verlangen nach der Substanz vorliegen. Bei Antidepressiva scheint das nicht gegeben zu sein: In Versuchen mit Tieren haben die Probanden mit Zugang zu SSRI die Dosis nicht selbstständig erhöht. Haben Antidepressiva also kein Abhängigkeitspotential? Manche Experten sind anderer Meinung.
Die S3-Leitlinien weisen auch auf eine Übersichtsarbeit von Fava et al. hin. Darin kommen die Wissenschaftler zu dem Schluss, dass der Begriff „Absetzsyndrom“ die Symptomatik der Patienten nicht adäquat beschreibe. Denn beim Absetzen von Antidepressiva käme es häufig zu entzugsähnlichen Symptomen. Antidepressiva gehörten den Forschern zufolge daher genau wie Benzodiazepine auf die Liste der Medikamente, die beim Absetzen Entzugserscheinungen auslösen können.
Uwe Gonther erläutert, in welcher misslichen Lage sich Patienten befinden. Treten Absetzsymptome auf, hätten die Betroffenen weder die nötige Begrifflichkeit, noch die Aufklärung, um ihre Situation einzuordnen. Berichten die Patienten über ihre Probleme, erkläre man ihnen oftmals, dass sie den Schutz durch die Medikamente wohl doch bräuchten. „Eine Verdrehung der Tatsachen“, sagt Gonther. Schließlich kam es erst aufgrund der Medikamente zur Entzugssymptomatik.
Die Absetzprobleme sollten im Vorfeld der medikamentösen Therapie besprochen werden, betont Gonther. Bisher wurde das kaum getan: In einer Studie erinnerten sich weniger als zwei Prozent der Patienten daran, über Entzugserscheinungen oder potentielle Schwierigkeiten beim Absetzen aufgeklärt worden zu sein.
Unter Umständen könne der Hinweis auf die Absetzbeschwerden Ängste auslösen. Einige Patienten würden die Medikamente dann nicht mehr einnehmen wollen. Jemandem diese Information vorzuenthalten, hält der Psychiater Uwe Gonther dennoch für keine Option.
Gonther macht die Erfahrung, dass das Absetzen von Antidepressiva in der Klinik oftmals schnell und unproblematisch verlaufen kann. Dort profitieren die Patienten von einem breiten Angebot an Therapien, etwa Kunst- und Bewegungstherapie. Schließlich spielen, wie Gonther erklärt, bei der Überwindung einer Depression und auch beim Absetzen der Medikamente positive Erfahrungen und die Aktivierung der Selbstheilungskräfte eine zentrale Rolle.
Artikel von Hanna Stern
Bildquelle: Noah Silliman, Unsplash