Eine Studie zeigt, dass exaktere Voraussagen zur Aggressivität von Prostatakarzinomen möglich sind. Eine feinere Abstufung des Gleason-Grades helfe, individuellere Therapieentscheidungen zu treffen und mehr Patienten eine aggressive Therapie zu ersparen.
Das Prostatakarzinom ist in Deutschland die häufigste Krebsart bei Männern. Wenn der Tumor lokal begrenzt ist, bestehen meist gute Heilungschancen. Doch die etablierten Behandlungsverfahren wie Operation oder Bestrahlung sind nicht frei von Komplikationen. Deshalb plädieren viele Experten für ein aktives Beobachten dieser Patienten und den Verzicht auf weitergehende Therapiemaßnahmen. Die derzeit gültige S3-Leitlinie empfiehlt dieses Vorgehen für Patienten mit niedrigem Rezidivrisiko. Seit 2013 werden in der prospektiven PREFERE-Studie die derzeit gängigen Vorgehensweisen miteinander verglichen.
Neben dem PSA-Wert und dem Tumorstadium nach dem TNM-System ist der Gleason-Score das wichtigste Entscheidungskriterium, um die Patienten zu bestimmen, für die die Strategie des Beobachtens und Abwartens in Frage kommt. Dieser Score ist ein Maß für den Entdifferenzierungsgrad von Tumorzellen, die in Gewebeproben aus der Prostata der Patienten gefunden wurden. Mithilfe des Scores können Ärzte beurteilen, wie bösartig ein Tumor ist. Die Einteilung umfasst fünf Grade, wobei Grad 1 die am stärksten differenzierten Zellen beschreibt und Grad 5 die am wenigsten differenzierten Zellen, deren Wachstumsmuster fast jede Ähnlichkeit mit normalem Prostatagewebe verloren haben. Um den Gleason-Score zu bilden, wird der häufigste und der am niedrigsten differenzierte Grad addiert. Die meisten Tumoren, die Pathologen im Rahmen einer Biopsie entdecken, weisen einen Gleason-Score von 6 oder 7 auf; die restlichen Tumoren einen Gleason-Score von 8 oder größer als 8. Proben mit einem Gleason-Score von 7 werden bislang nochmals unterteilt in 3+4 oder 4+3; je nachdem ob Tumorzellen mit Grad 3 oder Grad 4 in der jeweiligen Probe überwiegen.
Für die behandelnden Ärzte ist diese relativ grobe Unterteilung in fünf Gruppen wenig zufriedenstellend: „Bislang gab es die starre Grenze: Nur bei Patienten mit einem Gleason-Score von 3+3 konnte man laut Leitlinie abwarten und beobachten. Bei allen anderen Patienten wurde empfohlen zu operieren, egal ob nur wenig oder viel höher gradiges Tumorgewebe vorlag“, sagt Thorsten Schlomm, leitender Arzt an der Martini-Klinik, dem Prostatakrebszentrum des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Er und seine Kollegen um Guido Sauter, Direktor des Pathologischen Instituts des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf haben nun in einer Studie [Paywall] gezeigt, dass ein modifizierter Gleason-Score, der detailliert die prozentualen Anteile der einzelnen Differenzierungsgrade angibt, eine wesentlich feinere Voraussage über die Aggressivität von Prostatakarzinomen und das weitere Vorgehen erlaubt. „Wir konnten beobachten, dass nach Entfernung der Prostata die Krankheit bei Patienten, die einen geringen Anteil von Tumorgewebe mit Grad 4 aufwiesen, einen ähnlich guten Verlauf nahm wie bei Patienten mit reinen Grad-3-Tumoren“, berichtet Schlomm. „Das spricht dafür, dass man die Patientengruppe, für die die Strategie des aktiven Beobachtens in Frage kommt, auch auf einen Teil der Patienten mit Gleason-Score 3+4 ausdehnen kann.“ Die quantitative Klassifizierung, so der Mediziner, erlaube es, viele Graustufen zu erkennen und eine deutlich individuellere Therapieentscheidung zu treffen. Damit könne man wesentlich mehr Patienten als bisher eine aggressive Therapie ersparen. Für die Studie, die in der Fachzeitschrift European Urology erschien, wurde der Verlauf der Krankheit von 12.823 Patienten untersucht. Bei allen war die Prostata an der Martini-Klinik chirurgisch entfernt und diese am Institut für Pathologie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf histologisch untersucht worden. Die Forscher quantifizierten bei allen entfernten Tumoren den ursprünglichen Gleason-Score und teilten die bisherigen fünf Gruppen in 13 verschiedene auf.
Für alle Gruppen bestimmten Schlomm und seine Kollegen für verschiedene Zeitpunkte nach der Operation den Anteil der Patienten, deren PSA-Wert wieder angestiegen war. Schlomm: „Wir wollten wissen, ob weiteren Patienten mit einem hauptsächlich niedrig gradigen Prostatakarzinom die Strategie des aktiven Beobachtens in Zukunft angeboten werden kann.“ Es zeigte sich, dass Patienten mit einem Anteil von maximal 15 Prozent Grad-4-Gewebe im Tumor ein fast genauso geringes Risiko für einen erhöhten PSA-Wert hatten wie Patienten mit einem reinen Grad-3-Tumor. Schlomm schätzt, dass für bis zu doppelt so viele Patienten wie bisher die Strategie des aktiven Abwartens eine Option darstellt. Bei 2.971 der 12.823 Patienten wurde die diagnostische Prostatabiopsie ebenfalls im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf erstellt. Auch hier quantifizierten die Forscher die ursprünglichen Gleason-Score-Werte und verglichen diese mit den Werten, die nach der Operation bestimmt worden waren. Bei fast 60 Prozent der Prostatakarzinome, bei denen vorher die Biopsie einen Gleason-Score 3+3 ergeben hatte, war der tatsächliche Gleason-Score höher. „Wenn wir die Tumoren dagegen quantitativ beurteilt haben, stimmten der Wert vor und der Wert nach der Operation wesentlich präziser überein“, sagt Schlomm. „Durch eine feinere Abstufung des Gleason-Grades in den Biopsien lässt sich besser voraussagen, was tatsächlich in der gesamten Prostata vorliegt.“ Auf diese Weise, so der Mediziner, lasse sich die Gefahr einer nicht adäquaten Therapie verringern.
Andere Experten befürworten das neue Bewertungssystem: „Bislang wurde bei Grenzfällen, bei denen zum Beispiel nicht klar war, ob nun der Gleason-Score 3+3 oder 3+4 vorliegt, eine erneute Biopsie empfohlen“, sagt Dirk Zaak, Leiter des Prostatakrebszentrums Traunstein in Oberbayern. „Mit dem quantitativen Gleason-Score lässt sich die Einteilung von niedrig- und mittelgradig aggressiven Karzinomen offensichtlich noch genauer als bislang vornehmen.“ Die neue Methode, so Zaak, stelle keinen größeren Mehraufwand für Pathologen dar, liefere aber dem behandelnden Arzt zusätzliche Anhaltspunkte, die ihm hälfen, die richtige Therapie auszuwählen. Ein grundsätzliches Problem bei der Beurteilung von Gewebeproben kann auch der quantitative Gleason-Score nicht beheben: In rund 20 bis 30 Prozent der Fälle kommen verschiedene Pathologen zu unterschiedlichen Ergebnissen bezüglich der Aggressivität eines Prostatakarzinoms. Schlomm geht davon aus, dass durch die Anwendung des quantitativen Gleason-Scores solche Unterschiede nicht mehr so stark ausfallen, da die feinere Abstufung eine bessere Interpretation der Befunde zulässt. Zusätzlich tritt er für eine bessere Ausbildung und verstärkte Spezialisierung der Pathologen ein. Schlomm setzt aber auch auf eine maschinelle Auswertung der Prostata-Gewebeproben: Spezielle Diagnosegeräte, die schon in Entwicklung sind, sollen zukünftig die Proben vollautomatisch mit Mustererkennungs-Algorithmen analysieren und würden so den Einfluss der Subjektivität ausschließen.
In einer weiteren Studie [Paywall] haben Schlomm und seine Kollegen untersucht, ob sich mit zusätzlichen genetischen Biomarkern die prognostische Aussagekraft der bisherigen Verfahren weiter verbessern lässt. Dafür analysierten die Forscher das genetische Profil von 3.845 Prostatakarzinomen auf 150 verschiedene Biomarker. Bei drei dieser Biomarker konnten die Forscher zeigen, dass ihr Auftreten mit einem hohen Gleason-Score korreliert und sie sich als zusätzlicher Prognosefaktor eignen. Die Ergebnisse der Studie wurden jüngst in der Fachzeitschrift Clincal Cancer Research veröffentlicht. Originalpublikationen: The combination of DNA ploidy status and PTEN/6q15 deletions provides strong and independent prognostic information in prostate cancer [Paywall] M. Lennartz et al.; Clin Cancer Res., doi: 10.1158/1078-0432.CCR-15-0635; 2016 Clinical Utility of Quantitative Gleason Grading in Prostate Biopsies and Prostatectomy Specimens [Paywall] G. Sauter et al.; Eur Urol., doi: 10.1016/j.eururo.2015.10.029; 2015